Nachdem die GEW einen Artikel zum Einfluss von Tech-Unternehmen in Schulen veröffentlicht hatte, in dem ein Disziplinarverfahren gegenüber einem Kollegen erwähnt wurde, der auch auf Twitter sehr aktiv ist, schäumten die Emotionen hoch. Es ging und geht um die Frage, inwiefern Lehrerinnen und Lehrer sich von großen Technologieunternehmen beeinflussen oder vereinnahmen lassen können. Ich selbst nahm an der Diskussion nur insofern teil, als dass ich in einem etwas unbedachten, humoristischen Tweet andeutete, dass auch die Entscheidung für einen Verlag nicht gleich Lobbyarbeit sei. Da Twitter kochte, ich die Frage nach Einfluss von Technologiekonzernen in der Schule aber spannend fand, stelle ich meinen Blog zur Verfügung, so dass Freiwillige hier ihren Standpunkt präsentieren können. Es meldeten sich Tobias R. Ortelt, Forscher für die digitale Lehre im Maschinenbau, und Christian Füller, Journalist und Buchautor. Dazu kommt ein weiteres Stück von Seminarleiter Jan Marenbach, der seinen Artikel etwas später beisteuerte. Diese Zeilen schreibe ich, ohne zuvor Einblick gehabt zu haben. Ich werde die Texte selbstverständlich lesen, die Meinungen sind aber unabhängig von meiner eigenen.
Welche Alternativen gibt es denn für die Digitalisierung in Schulen?
Von Tobias R. Ortelt, @T_Ortelt
Ok, dann schreibe ich nun mal einen Text zu Einflussnahme von Tech-Giganten an Schulen.
Ich bin durch den folgen Tweet in die ganze Sache als Nicht-Lehrer reingeschlittert.
Natürlich wurde mir sofort „Whataboutism“ vorgeworfen, da ich die Aufmerksamkeit von den Tech-Unternehmen auf die deutschen Schulbuchverlage lenkte.
Wenig später wurde ich dann von Christian Füller (meinem Mitautor dieses Beitrags) darauf hingewiesen, dass ich doch nicht die deutschen Schulbuchverlage mit den Tech-Konzernen aus den USA vergleichen darf, da doch die Umsätze in völlig anderen Dimensionen liegen.
Natürlich kann man die Umsätze bzw. die Werte der Unternehmen nicht vergleichen. Spannend wird es allerdings, wenn man sich die Bedeutung der drei großen deutschen Schulbuchverlage ansieht:
Die drei Schulbuchverlage, Cornelsen Verlag, Ernst Klett Verlag und der Westermann Verlag, teilen 90 % des gesamten Marktes für Schulbücher unter sich auf.
(Quelle: https://www.lehrcare.de/blog/schulbuchverlage-in-deutschland/ - Stand 2011).
Ich denke, dass man hier klar von einem Oligopol sprechen muss, welches man den Tech-Unternehmen auf der anderen Seite vorwirft.
Nun aber zum Dossier „Aktivitäten der Digitalindustrie im Bildungsbereich“ der GEW, die den (in Ihren Augen vorliegenden) Lobbyismus der Tech-Unternehmen kritisiert – Dazu die folgenden Gedanken:
- Die jeweiligen Einleitungen für die Aktivitäten von Apple, Microsoft und Google enden jeweils mit einem Verweis, dass diese Unternehmen in Deutschland (bzw. Europa) nur geringe Steuern zahlen. Bei Samsung wird durch die GEW kritisieret, dass der Konzern Samsung politischen Einfluss in Südkorea hat. Mir ist überhaupt nicht klar, warum diese Kriterien herangezogen werden, wenn es doch um die Aktivitäten zu Lobbyismus gehen soll. Hier werden die Konzerne direkt als Steuerbetrüger gebrandmarkt – Wie soll so eine neutrale bzw. faire Auseinandersetzung erfolgen?
- Die Aufzählungen der einzelnen Aktivitäten der Konzerne ist sehr ausführlich - Allerdings auch sehr stark durch die Sichtweise der GEW geprägt. So werden viele Aktivitäten sofort abwertend oder kritisch eingeordnet. Insgesamt muss festgehalten werden, dass dieses Dossier voll ist von Framing (Schönes Video für die Erklärung von Framing - https://www.youtube.com/watch?v=VNsL30-AMmE). Als Beispiel wird in der Einleitung „die Digitalisierung schulischer Bildung“ als „ein weiteres Einfallstor“ beschrieben. Somit wird die Digitalisierung sehr negativ dargestellt und ein militärischer Kontext wird hergestellt.
In einer Zusammenfassung ordnet die GEW die Aktivitäten der Tech-Konzerne ein – Dazu möchte ich folgende Aspekte kurz hinterfragen:
- „Das Primat der Pädagogik muss gewahrt bleiben und darf nicht durch Computerprogramme (Lernmanagementsoftware, Learning Analytics, u. a.) eingeschränkt oder ausgehebelt werden.“Was ist daran verwerflich, wenn Lehrer*innen Lernmanagmentsoftware (LMS) einsetzen um Inhalte mit Ihren Schüler*innen zu teilen? Wäre es nicht für Lehrende eine Entlastung, wenn durch eine Künstliche Intelligenz, im Sinne von Learning-Analytics, überprüft wird, ob der Schüler A die Rechenaufgaben richtig gelöst hat oder eine intensivere Betreuung durch die/den Lehrer*in benötigt? Natürlich MÜSSEN alle wichtigen Entscheidung in der Hand der Lehrer*innen bleiben, aber die Digitalisierung kann genutzt werden, damit einfach Aufgaben (Überprüfung der Hausaufgaben) keine Zeit kosten.
- „Für zahlreiche Anwendungen steht kostenlose Open-Source-Software zur Verfügung.“Nein, Nein und nochmals Nein – Natürlich gibt es für viele Anwendungen Open-Source-Lösungen, aber es gibt auch gewissen Standards. Diese Standard-Tools funktionieren einfach und sind daher so stark verbreitet. Zu diesen Standards zählt eben auch Microsoft Office bzw. Office365. Gefühlt setzen 99% alle Unternehmen diese Tools für die tägliche Büroarbeit ein, weil es eben keine wirklichen alternativen gibt. Warum also nicht Schüler*innen die Tools nutzen lassen, die sie mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit auch im späteren Alltag einsetzen werden. Und viele Eltern können sicherlich ihren Kindern eher bei Office365 als Open-Office etc. helfen, da sie Office selber berufliche einsetzen. Und ja, die Hürde des Datenschutzes muss bei Office365 genommen werden.
- „Datenschutz“Ja, für die Nutzung von Cloud-Diensten muss Datenschutz betrachtet werden. Aber es kann doch nicht sein, dass wir in Deutschland kategorisch Tools bzw. Anbieter ausschließen, weil der Datenschutz-Anspruch der Tech-Konzerne nicht mit deutschen bzw. europäischen Gesetzen übereinstimmt. Und dann immer diese Skandalisierung „Datenschützer XY sagt, dass Konzern Z ja so einen schlechten Datenschutz hat“. Zielführender wäre der politische Austausch mit den Tech-Konzernen zum Thema Datenschutz, damit zufriedenstellende Lösungen für alle Beteiligten (User, Konzerne, Politik) gefunden werden. Und das Thema Datenschutz betrifft ja nicht nur den Bildungssektor.
- „Fortbildung“Einer der wenigen Punkte bei der ich der GEW zustimme. Die Fortbildung von Lehrenden sollte nicht nur durch die Tech-Unternehmen erfolgen, damit der Blick über den Tellerrand weiterhin möglich bleibt. Trotzdem sollte es Lehrer*innen möglich sein, Badges wie „Apple Distinguished Educator (ADE)” oder „Certified Microsoft Innovative Educator (MIE)“ zu tragen. Dieses Personal-Branding gehört in Zeiten von Social-Media dazu. Ein solches Personal-Branding wird in vielen anderen Bereichen als etwas sehr positives angesehen, vor allem wenn sich die Personen dann auch noch neben ihrer beruflichen Tätigkeit weiterbilden.
- „Unterrichtsinhalte“Dieser Aussage bzw. Unterstellung, dass Apple Einfluss auf die digitalen Materialien nimmt widerspreche ich sehr stark. Es wird als Beispiel iBooks als Autorentool genannt. Natürlich überprüft Apple Inhalte, bevor diese für die breite Masse verfügbar werden. Apple hier in einem gewissen Maße Zensur zu Unterstellung zeigt, dass die Grundposition der GEW. Im Sinne von „Whataboutism“sollte auch kritisch hinterfragt werden, in wieweit aktuell auch die drei großen Schulbuchverlage bereits die Unterrichtsinhalte mitbestimmen.
Abschließend und ergänzend zum Beitrag „Keine Dienstpflichtverletzungen
erkennbar“ in der Erziehung & Wissenschaft 12/2019 in der konkret Lehrende an den Pranger gestellt werden (auch ich benutze gerne Framing), weil sie selber bzw. die jeweilige Schule mit den Tech-Unternehmen kooperieren, möchte ich festhalten:
Selbstverständlich dürfen Konzerne den geschützten Raum Schule nicht für Werbeaufnahmen nutzen; natürlich sind Lehrende zur Neutralität verpflichtet und sicherlich sollte der Lobbyismus der Konzerne nicht überhand nehmen, aber welche Alternativen haben wir denn, wenn wir die entscheidenden Tools der Tech-Unternehmen ablehnen?
Es gibt keine wirklichen Alternativen zu den Big-Playern (Apple, Microsoft, Google) für die Digitalisierung der Schulen in Deutschland. Wir können diesen Zustand jetzt weiterhin kritisieren und die Unternehmen verteufeln, aber dann wird Deutschland im Thema Digitalisierung (nicht nur im Sektor Schule) weiter an Boden verlieren, denn die Schüler*innen von heute sollen ja die Programierer*innen und Entwickler*innen von morgen sein.
Und ja, die Tech-Unternehmen betreiben sicherlich in einem gewissen Maße Lobbyismus, aber dort Treten sie in die Fußstapfen der Schulbuchverlage. Abschließend eine ganz subjektive Erfahrung:
Meine Tochter besucht nun die erste Klasse und die Lehrerin setzt zum ersten Mal ein neues Deutschbuch ein. Meine Anmerkung, warum denn genau dieses Deutsch-Buch jetzt eingesetzt wird wurde wie folgt beantwortet: „Der Verlag hat das so schön präsentiert.“ – Noch Fragen zum Thema Lobbyismus in Schulen?
PS: Das Deutschbuch ist wirklich gut und kann per App sehr gut ergänzt werden 🙂
Die Stampede
Teile des Twitterlehrerzimmers fallen über kritische Lehrer her, stellen die vierte Gewalt infrage und verscherbeln die Grundrechte von Schülern. Was ist da los?
Von Christian Füller, @ciffi
Es war eine Stampede. Eine Rudelbildung auf Twitter gegen öffentliche Kritik, wie sie der Journalismus äußern muss. Sonst ist er tot - und kurz danach wohl auch die Demokratie. Von daher weiss ich gar nicht, was mich mehr erschreckte, als gegen einen Text in der „Erziehung & Wissenschaft“ der GEW polemisiert wurde: das Unwissen bei Lehrern und Netzaffinen darüber, was die Aufgabe der Presse ist? Oder die unterlassene Hilfeleistung für den attackierten Journalisten-Kollegen und jenen Lehrer, der als Zeuge der Anklage in dem Text vorkam?
Der E&W-Text [Hier S. 32ff] hatte die Hintergründe von zwei Kooperationen zwischen Schulen und den Konzernen Google und Microsoft aufgedeckt. Die Machart dieser Zusammenarbeit kann man problematisieren, nein man muss es sogar tun. Auf Twitter aber wurde aus vollen Rohren gegen das E&W-Stück geschossen. Das Twitterlehrerzimmer nannte das Stück einseitig, reißerisch und respektlos. Der Autor und/oder der Lehrer (das war in dem Furor nicht mehr klar) wurden als Kameradenschweine beschimpft. Mein Sparringspartner hier, Tobias R. Ortelt, äußerte sich erfreulicherweise sachlich. Er verglich die Tech-Giganten – die die mächtigsten Konzerne der Weltgeschichte sind – aber allen Ernstes mit der geradezu winzigen deutschen Schulbuchbranche.
Ein Vergleich, der blind ist für die wahren Größenverhältnisse: die drei größten deutschen Schulbuchverlage haben einen Umsatz von 900 Millionen Euro. Allein die drei für Schule relevanten Konzerne Google, Microsoft und Apple haben aber einen Jahresumsatz von 600 Milliarden Dollar. Wir sprechen also von einer rein pekuniären Marktpower im Verhältnis von etwa 1:600. Und selbst wenn die Verlage derzeit noch eine marktbeherrschende Position bei den Schulbüchern besitzen: was hilft es Hänschen Däumeling, wenn Goliath hoch 100 den Bildungsmarkt disruptiert und die Bedeutung des Schulbuchs im Minutentakt schwindet? Oder erinnert sich etwa noch jemand an den Handy-Weltmarktführer Nokia, den Apples iPhone von der Platte putzte?
Während der E&W-Autor und der kritische Lehrer sich tapfer Super-Goliath in den Weg stellten, tat die Lehrertwitteria was? Sie schmiegte sich treuherzig an die Seite der Tech-Riesen. Und biss wütend nach den Aufklärern. Zeitweilig nahm die Kampagne in meinen Augen Züge von etwas an, das man sonst nur aus sehr einseitigen Echokammern gewohnt ist: das generelle Herabwürdigen der Presse. Journalisten berichteten falsch, schrieben unsäglich, seien persönlich charakterlos – und dürfen daher offenbar wahllos geschmäht werden: sogar die Worte „Kreaturen“ und „Denunzianten“ fielen. Unfassbar. Die Lehrer der Nation, die demokratische Staatsbürger heranziehen sollen, dürfen sich auf einen solchen Sprachgebrauch nicht einlassen. Es ist bezeichnend, dass sich die vermeintlich progressivsten aus dem Twitterlehrerzimmer an diesem Pro&Contra nicht beteiligten, um die Frage einmal sachlich zu erörtern. Leute wie @dejanfreiburg, die die Lawine mit auslösten, weigerten sich zu erläutern, was an dem Text in der E&W nun eigentlich so problematisch sein sollte.
Juristisch kann man den Text in der GEW-Zeitschrift meines Erachtens nämlich nicht infrage stellen. Die erfolgte Meldung des Stücks beim Presserat halte ich für aussichtslos. Es gibt einen Aspekt, der in meinen Augen problematisch ist. Hatten die beiden Lehrer, die namentlich genannt werden, Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äußern? Wenn das nicht der Fall ist, dann ist das ein Recherchefehler, den man monieren muss. Die angegriffene Seite muss Gelegenheit haben, Stellung zu nehmen. Zur Kritik, der Text sei einseitig: er hat ein Thema, die illegitime, ja gesetzlich verbotene Art des Einflusses auf Schulen. Das ist okay und das ist auch gut so.
Die Digitalisierung der Schulen lässt sich nicht aufhalten, wer das denkt, ist ein Naivling. Und ein Idiot obendrein. Denn digitale Hilfsmittel geben Schülern eine Vielzahl kreativer Möglichkeiten an die Hand. Diese Tools werden Gewicht und Einfluss der Schüler beim Lernen vergrößern. Das wird über kurz oder lang dazu führen, dass das alte Konzept des Unterrichts am Ende ist: Ich meine damit, Schülern in einem Top-Down-Verfahren immer fest auf den Gleisen des Lehrplans und in den meist 45-minütigen Etappen des Stundenplans Wissen zu vermitteln.
Die (nahe) Zukunft wird die Schüler in den Mittelpunkt des Lernens stellen, ja sie zu Produzenten des Wissens machen. Die Digitalisierung stellt dafür großartige Produktionsmittel zur Verfügung: Endgeräte, Screens, Tools, Wolken, Apps usw. Dabei wird man ziemlich sicher an einer Reihe von Produkten der großen Konzerne nicht vorbei kommen. Das heißt aber nicht, dass man sie einfach so in die Schulen hinein lassen darf. Lehrer, Rektoren und Schulträger sollten, unterstützt von Medienberatern, gut überlegen, welche Tools sie für ihre Art des Unterrichtens brauchen – um es dann schrittweise in Neues Lernen zu transformieren.
Aber es gibt rote Linien. Das Werbeverbot in Schulen muss gerade bei so mächtigen Konzernen eingehalten werden. Was überhaupt nicht geht ist, dass die Lehrer selbst zu Werbefiguren und Vertriebsleuten von Konzernen werden, obwohl sie Landesbedienstete sind. Es gibt keine doppelte Loyalität. Beamte sind gut abgesichert, es kann nicht sein, dass sie durch Auszeichnungen wie Certified Teacher oder ähnliches in quasi vertragliche Beziehungen zu Konzernen treten. Also: natürlich dürfen sie die glitzernden Produkte der Big5 bejubeln und vertreiben – aber dann gerne nicht als Staatsdiener. Kündigen, bitte! Oder sich freistellen lassen.
Es gibt ein besonders großes Risiko, das von einer Gruppe von Lehrern geradezu fahrlässig missachtet wird: Datenschutz ist keine lästige Auflage von greisen Herrn, es ist ein Grundrecht. Das Grundrecht der Schüler auf informationelle Selbstbestimmung. Es ist derzeit quasi unmöglich, dieses hohe Gut mit den Clouds der US-Konzerne einzuhalten. Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten ist dieser Meinung – nur noch nicht mehrheitlich. US-Clouds haben die Verpflichtung alle Daten auf Anfrage an die US-Regierung auszuhändigen - auch wenn sie in Deutschland gesammelt wurden. Auf dem Markt finden sich übrigens massenhaft Tools und auch Schulclouds, die jenseits von HPI Schulcloud, google classroom oder O 365 bereits auf ihre datenschutzrechtliche Unbedenklichkeit zuende geprüft sind. Es ist also Kokolores zu behaupten, dass man nur mit Apple&Co weiter kommt. Das bedeutet, Lehrer sollten sich endlich darüber klar werden, wessen Interessen sie vertreten: die der Schüler? Oder die von 800-Milliarden-Dollar-Konzernen? Beides zusammen geht nicht.[1]
[1] In den USA werden regelmäßig Suchanfragen von Schülern auf Google kombiniert mit Lern- und Profildaten aus Schulclouds und dann absichtlich oder zufällig mit außerschulisch gewonnenen Daten zusammengeführt. Protest dagegen erhoben Eltern, die selbst beim Geheimdienst arbeiten – und wissen, welche Konsequenzen diese Sammelwut haben kann. Guardian, 5.12.2019
Twitterstreitereien
Text von Jan Marenbach, @jjjmare
Menschen finden einen Zeitungsartikel doof und schreiben das. Dies wiederum finden andere Menschen doof. Die inhaltliche Debatte dahinter ist trotzdem wichtig.
Die GEW hat in ihrer Mitglieder-Zeitschrift „Erziehung & Wissenschaft“ einen Text (S.32) veröffentlicht, der sich gegen die Zusammenarbeit von Schulen mit Konzernen wie Google oder Microsoft wendet. Der zentrale Vorwurf lautet, Schulen würden sich in rechtswidriger Weise als billige Werbeträger missbrauchen lassen. In dem Artikel wird unter anderem das Videoprojekt eines Kollegen als Beispiel für Lobbyismus an Schulen angeprangert.
Dieser Artikel hat im Twitterlehrerzimmer für so viel Unmut gesorgt, dass sich nun professionelle Journalisten nicht nur um den verantwortlichen Kollegen und dessen Zuarbeiter sorgen, sondern gleich komplett um das Ansehen der vierten Gewalt im Twitterlehrerzimmer. Darunter geht es offenbar nicht, aber so ein journalistisches Spezialthema wie „Bildung und Digitalität“ will ja auch gehegt und gepflegt werden. Da zu jenem rhetorischen Schutzraum auch die Zitation einzelner Kritiker (mich inklusive) gehört, verbrenne ich mir an diesem 2. Advent statt am Glühweinbecher die Finger mit dem Schreiben meiner ersten „Veröffentlichung“.
Den Artikel habe ich auf Twitter bezeichnet als:
- „einseitig“, weil der Text z.B. das Video ausschließlich als reine Werbemaßnahme von Google versteht;
- „reißerisch“, weil er unterstellt, in ihrer angeblichen Rechtswidrigkeit sei z.B. das Video Ergebnis von Mutlosigkeit seitens der verantwortlichen Schulbehörden;
- „respektlos“, weil er indirekt auf das Disziplinarverfahren als Lösung für den Umgang mit den namentlich genannten Kollegen verweist.
Ich bin der Ansicht, dass journalistische Texte all dies sein dürfen. Aber dann kann es eben auch sein, dass ich sie nicht gut finde. Und wenn sie ihren Content auf Kosten von Menschen aufhübschen, die ich besonders respektiere und mag, sind sie für mich zudem überaus ärgerlich - die vierte Gewalt möge mir verzeihen.
Die Erörterung der Frage, wieviel Einfluss an Schulen den großen Konzernen zugestanden werden darf, hat nichts mit meinem Ärger über den Artikel zu tun. Das angesprochene Video sehe ich differenziert und habe dies auch ausführlich mit dem Kollegen diskutiert. Mir missfällt der Werbe-Mehrwert, der für Google abfallen könnte, und die damit einhergehende Ästhetik des Clips. Mir gefällt die Professionalität, mit der hier in erster Linie Schüler*innen ein Video erarbeitet haben, das ihnen als Lernprodukt ihrer Schullaufbahn ein echtes Highlight sein dürfte. Überzeugt hat mich der Entstehungsprozess als Möglichkeit von Medienbildung, da mit den Schüler*innen die Rolle von Google durchgehend hinterfragt wurde.
Sehr schnell komme ich in diesen Gesprächen an einen Punkt, an dem mir klar wird, dass der Ausgangspunkt für meine Haltung in den Grauzonen im Umgang mit IT-Produkten in der Bildung ein sehr persönlicher ist (und ja – es sind Grauzonen!):
Ich habe kein WhatsApp. Das erspart mir den Sozialstress, schließt mich gelegentlich aber aus. Und so dachte ich neulich EGAL und installierte WhatsApp. Als jene Facebook-eigene App Zugang zu all meinen Kontakten forderte, verzichtete ich. Ich habe ja auch noch Wire, Signal und Telegram – notfalls SMS und Mail. Die wollen alle nicht zwingend Zugriff auf meine Kontakte, um zu funktionieren.
Um mich in dieser konsequenten Verweigerung prima zu finden, muss ich diverse andere EGAL-Entscheidungen ignorieren. Dass ich mich irgendwann bei Facebook und Instagram angemeldet habe, rede ich mir schön (minimaler Einsatz persönlicher Daten, keine Fotos von Personen). Bei der Nutzung meines chinesischen Androiden aber habe ich - abgesehen von ein paar Alibi-Nutzereinstellungen - aufgegeben: Ich sende zwar keine freiwilligen Berichte für Optimierungszwecke, Google weiß aber sonst alles von mir. Und den Rest weiß Microsoft, da das Ubuntu auf meinem PC auch nur ein Feigenblatt für meine Windows-Abhängigkeit ist. Erwähnte ich, dass sich auf meinem Surface MS und Google prima ergänzen?
Ich frage mich übrigens, ob die Apple-User mit diesen Ausführungen überhaupt etwas anfangen können. Innerhalb ihrer Apple-Welt quält die wahrscheinlich niemals jenes Ideal, das ich schon lange und immer wieder über Bord werfe: informationelle Selbstbestimmung. Kann man als halbwegs medienaffiner Mensch aktuell überhaupt noch einigermaßen Überblick haben über Preisgabe und Verwendung eigener personenbezogener Daten?
EGAL – ich habe mich an dieses ganze Zeug gewöhnt: Android und Google Maps und Drive, Windows 10 und Office 365, Youtube und Spotify, Amazon, PayPal, ParkNow, whatever. Und die codenden Nerds unter meinen Freunden, die keinen CCC-Kongress auslassen und mir Sinn und Notwendigkeit von Open Source so oft plausibel gemacht haben, zocken schließlich auch auf Windows und haben ihr neuestes Smartphone dann doch nicht mehr gerootet. Sicher muss man das alles ohnehin differenzierter betrachten: Mit etwas Aufwand kann man überall doch ganz gut entscheiden und einstellen, was man über sich preisgeben möchte. Und mit zu viel moralischem Rigorismus bleibt eh nur der Weg zurück auf die Bäume. Oder?
Echte Relevanz erhalten solche inneren Widersprüche im Kontext meiner Arbeit als Seminarleiter in der Lehrerbildung: Was ist hier geboten, was verboten? Bin ich unter dem Strich nun Gegner oder Unterstützer jenes Videos? Wie weit reicht meine Begeisterung für die Google Education Suite tatsächlich? Wo sind die „sauberen“ und(!) tauglichen LMS? Sollte ich in meiner Arbeit konsequenter die Verwendung von Open Source Software vorleben und propagieren? Wie gehe ich mit den Begrenzungen um, die mein Arbeitsumfeld prägen, und was wünsche ich mir konkret? Welche Rolle spielt in meinem beruflichen Handeln die Tatsache, dass die Big Five das freie Internet beim User möglichst weitgehend durch ihre eigenen Ökosysteme ersetzen wollen und damit die Versprechen weltweiter Vernetzung zur Dystopie geraten? Wie kann ich im beruflichen Alltag digitale Möglichkeiten zeitgemäßer Bildung erkunden und nutzen, ohne dass da am Ende jemand mit Reichweite gleich den Scoop eines Dienstrechtsvergehens wittert?
Natürlich habe ich im Seminar Lösungen und Strategien gefunden, die nicht auf „EGAL“ basieren. Aber ich sehe die Widersprüche und mir sind die Grauzonen bewusst, in denen ich mich immer wieder bewege. Meine Hoffnung ist, dass sich die Möglichkeiten weiter verbessern, SuS im „blauen Medium“ mehr Verantwortung für ihre Lernprozesse zu übertragen; dass wir über die Verbesserungen durch „Tools“ zu einer echten Transformation unseres Bildungssystems kommen, ohne es dabei gleich an US-amerikanische Konzerne verkaufen zu müssen.
Und ich hoffe, dass mögliche Irrwege in den Grauzonen der zeitgemäßen Bildung zu konstruktiven Debatten anstatt zu Disziplinarverfahren führen.
In diesem Sinne: Peace. Außerdem ist der Glühwein fertig und K2 möchte mir jetzt die Fotos von einem Schulausflug zeigen, die offenbar gerade über WhatsApp reingekommen sind…