Der Beruf als Lehrer macht vor allem deshalb so Spaß, weil man überrascht wird. Immer wieder. Als ich in der letzten Woche im Lehrerzimmer war und mir eine Kollegin mitteilte, dass in einer Klassen bald eine Schülerin weniger sein wird, weil diese bald wieder zurück nach Brasilien ginge (ihr Vater hatte zwei Jahre hier gearbeitet), wunderte ich mich schon ein wenig, hatte doch besagte Schülerin gerade erst bei mir eine Klausur geschrieben. Sie hatte zwar mit eingeübtem Hundeblick gefragt, ob sie die Arbeit, die sowieso nicht zählt, ausfallen lassen könnte, aber ich überredete sie, doch bei ihrer letzten Deutscharbeit mitzumachen.

Das, was sie schrieb, ist gerade in dieser Zeit eine wunderbare Geschichte.

Mit der freundlichen Erlaubnis der Schülerin kann ich hier die „Klausur“ veröffentlichen. Nur Namen der beteiligten Personen sind ausgelassen.

Hallo Herr Blume,
da Sie mir gesagt haben, dass Sie meine Arbeit als erstes korrigieren, werde ich Sie nicht mit einer Analyse langweilen (obwohl meine Analyse zu dieser Kurzgeschichte in der 9. Klasse voll gut war), sondern ein paar Geschichten aus meiner Zeit in Deutschland schreiben.

Mein erster Tag

Oh, mein Gott, endlich. Endlich kann ich in die Schule. Habe ich das wirklich gedacht? Ja, habe ich. Nach einer Woche zu Hause darf ich endlich Leute in meinem Alter kennenlernen. Ich habe Angst. Die Schule hier ist riesig. Ich soll erst einmal zum Sekretariat. Ok, tief durchatmen. Da steht eine große blonde Frau. Wer ist sie? Sie sieht mich an und kommt auf mich zu.

Dann fängt sie an zu reden. Was ist das? Das habe ich in meinen drei Monaten Sprachkurs nicht gelernt. Ich verstehe nichts. Sie merkt, dass ich nichts von dem, was sie sagt, verstehe, dann fängt sie an, Englisch zu reden.

Ich bin erleichtert. Sie stellt sich vor. Sie ist meine Klassenlehrerin und sie hat gesagt, dass mein Lehrer mich gleich hier abholt und mich zum Klassenzimmer bringt. Leider kann er, im Gegensatz zu ihr, nicht besonders Englisch. Was er redet ist eher Denglisch und das verstehe ich nicht.

Irgendwann stehe ich vor meiner Klasse. Ungefähr dreißig Schüler, die mich anstarren. Der Lehrer labert auf Deutsch weiter. Ich gucke alle an. Der eine Junge ist hübsch. Der andere sieht aus wie ein Star.

Das Mädel sieht sympathisch aus. Der Lehrer redet mit mir. Gott, was soll ich sagen? Ich glaube, er hat mich gefragt, wo ich mich hinsetzen will. Ich will einfach verschwinden. Ich laue einfach nach hinten. Setze mich neben ein. Mädchen. Lächle sie an. Bekomme nichts zurück. Ich bleibe einfach sitzen und sage nichts. Ich rede mit keinem. Keiner redet mit mir.

Freunde?

Ich will nicht wieder in die Schule. Mein erster Tag war schon schlimm genug. Aber ich muss. Dieses Mal haben wir Unterricht im Klassenzimmer. Ich gehe rein und sehe, wie mich alle angucken. Setze mich wieder nach ganz hinten und starre die Decke an. Was mache ich hier?

Auf einmal stehen drei Mädchen vor mir. Sie reden Deutsch. Ich frage, ob sie Englisch reden können. Sie stellen Sie vor und sagen mir, wie sie heißen. Ich merke, wie Englisch reden sehr anstrengend für sie ist, aber freue mich, dass sie es für mich versuchen.

Ich setze mich zu ihnen beim Unterricht und wir machen eine Gruppenarbeit zusammen, die ich nicht verstehe. Ich bin zu glücklich, um irgendwas anderes zu denken. Ich habe jetzt endlich Freunde. Ok, sie sind noch nicht meine richtigen Freundinnen, sie waren nett zu mir, weil ich hier keinen kenne. Aber das wird schon. Ich werde irgendwann viele Freunde haben. Jetzt ist es noch zu früh.

Erstes deutsches Wort

Ich bin schon seit ungefähr einem Monat da, und jetzt haben wir ein anderes Fach. Da kann ich sogar ein bisschen halfen. Ich bin in einer Gruppe mit zwei anderen Mädchen und wir müssen ein kleines Haus aus Holz bauen. Unsere Klasse ist in Gruppen aufgeteilt. Ich gehöre noch in keinen Freundeskreis.

Na gut. Muss nun den anderen beim bauen helfen. Auf einmal kommt die eine mit einem Gerät für Schrauben. Ich weiß nicht, warum, aber ich will unbedingt wissen, wie es auf Deutsch heißt. Sie sagen es mir. Ich brauche erst 5 Minuten, um das Wort auszusprechen. Akkuschrauber. Wir lachen und ich fühle mich das erste mal hier wohl.

Esthebans

Ich bin jetzt immer bei den drei Mädchen. Sie sind einfach sehr nett. Heute übernachten wir alle bei mir. Mal gucken, wie es wird.

Das war der schönste Abend überhaupt. Ich habe das Gefühl, dass wir alle beste Freunde werden. Wir verstehen uns alle mega gut und lachen auch die ganze Zeit. Es macht Spaß mit ihnen. Heute sind wir beste Freunde.

In dieser Zeit sind wir sechs eine Gruppe geworden, die Esthebans. Unsere Boygroup. Ich weiß nicht, ob es bessere Menschen gibt als diese. Sie sind in dieser kurzen Zeit zu meinen besten Freunden geworden.

Erste Liebe

Unsere Klassenlehrerin will uns durchmischen und die Sitzordnung verändern. Unsere Klassengemeinschaft ist gerade nicht so gut und sie will es bessern. Ich sitze jetzt zwischen zwei Jungs. Beide sehen lieb aus. Einer hilft mir immer sehr gerne mit allem und der andere ist super lustig, wie ich mit der Zeit merke. Der eine ist außerdem ganz süß- Wir schreiben immer und machen was zusammen. Ich glaube, er steht auf mich.

Die Mädels denken das auch. Eigentlich stehe ich auch auf ihn, ich will es nur nicht zugeben. Bum. Wir sind zusammen. Er ist meine erste Liebe und ich werde ihn nicht vergessen. Er ist jetzt in Kanada für einen Austausch, deswegen haben wir Schluss gemacht. Wir waren neun Monate zusammen und es waren die allerschönsten, die es gab.

Sommer und Party

Endlich Ferien! Jetzt kann ich endlich was Richtiges mit den Mädels machen. Jeden Tag am See, das ist so toll! Wir haben den Freund einer aus unserer Clique kennengelernt und er ist jetzt jeden Tag bei uns. Er ist richtig nett und es macht total Spaß mit ihm. Wir sind zu seinem Geburtstag eingeladen und kommen alle. Sommer war einfach nur cool mit allen. Wir haben wirklich jeden Tag was gemacht, dann gab es zwei Geburtstage. Auch meinen.

Im September hat es angefangen kalt zu werden. Wir waren dann nicht mehr am See und waren immer bei jemandem zu Hause, bis zu einem besonderen Geburtstag. Ich habe mich so darauf gefreut, aber alle anderen Mädels hatten irgendwie keinen Bock. Wir immer, als wir da waren, waren sie richtig glücklich und wollten nicht weg. Wir haben alle gegenseitig auf uns aufgepasst.

Wir haben getanzt und auf einmal kam das Lied „Radler ist kein Alkohol“ und eine hatte eines in der Hand. Sie sagte den besten Spruch überhaupt: „Radler! Yeeeey!“

Wir hatten Sie da noch nicht als Lehrer, aber da kam dann auch der beste Schlager überhaupt: „Wir sind die Männer mit einem harten Job, wir fahren mit dem Bob.“ Und immer, wenn wir nun das Lied hören, denken wir an Sie. Die Party hat so Spaß gemacht, es war unglaublich.

Schluss

Ich bin froh, dass ich alle meine Freunde habe. Es gibt noch tausende Geschichten, aber ich habe leider keine Zeit mehr dafür. Die zwei Jahre hier waren der Hammer, und ich kann nur hoffen, dass ich zurückkomme.

Hoffentlich hat es Ihnen Spaß gemacht, meine Geschichten zu lesen, wenn Sie überhaupt alle gelesen haben.

Liebe Grüße

L.

 

P.S. Ja, ich habe alle gelesen. Und ja, hat es.

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