LITERATUR: Abendbrot

Bob Blume
I
16. Oktober 2013
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Es wurde langsam später und als er aus dem Fenster schaute, kam ihm alles unglaubwürdig vor. Er startete seinen Computer und sah dem Bildschirm zu. Er verstand nichts von dem, was dort zu sehen war. Das viel zu laute Startsignal holte ihn aus seiner Gedankenverlorenheit. Er öffnete das Schreibprogramm und krempelte seine Ärmel hoch.

Dann verharrte er, seine Finger auf der Tastatur. Ihm fiel nicht ein, wie er beginnen sollte. Allein dies musste ihn zum Schmunzeln bringen, denn sein letzter Mord war ihm leichter gefallen, als das Schreiben. Eigentlich nannte er es auch nicht Mord, sondern Lebenshilfe mit Todesfolge. Lebenshilfe freilich nur für die Auftraggeber. Trotzdem sah er die Opfer nicht als Opfer, da er aus tiefstem Herzen an die Gerechtigkeit glaubte.

Er lehnte sich zu nah an den Monitor und schrieb seinen ersten Satz: Ich glaube aus tiefstem Herzen an die Gerechtigkeit.

Er strich sich über sein schütteres Haar und fühlte die Hubbel auf seiner Stirn. Dann betasteter er seine Hautfalten. Die dicksten Falten hatte er in der Mitte der Augenbrauen. Es fühlte sich verbittert an, was ihn abermals zum Schmunzeln brachte. Gerechtigkeit.

Einen Menschen zu töten, ist nicht wie im Film. Es gibt natürlich verschiedene Arten, aber das Ende ist, wenn man es richtig macht, immer dasselbe. Und man sollte es richtig machen, da ein Röcheln oder gar ein erstickendes Schreien doch nicht einfach zu verkraften ist. Aber das ist ihm noch nicht so häufig passiert. Meistens geht es sehr schnell und brauch keine wirkliche Vorbereitung, außer eine kurze Analyse der Gehwege. Da haben die Filme schon Recht. Auch die Handschuhe sind natürlich wichtig, aber ansonsten ist alles andere übertrieben.

Im Monitor sah er sein eigenes Gesicht in dunklen Umrissen, dahinter die Lampe. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es viel zu hell war. Oder war es draußen so schnell dunkel geworden?

An seine Nase hatte er sich nicht gewöhnen können, und das nicht, weil sie zu groß oder zu klein war. Vielmehr war sie so unscheinbar, dass er sie nicht hätte beschreiben können. Ein Riechkolben, nicht mehr. In seinen zwanziger Jahren hatte ein Straßenmaler ein Portrait von ihm verfasst, das wie eine Karikatur aussah. Schon damals hatte er seine Nase dafür gehasst. Mittlerweile war die Langeweile, die sein gesamtes Gesicht ausstrahlte, ein Einstellungskriterium für seinen Beruf. Er hätte ein wenig größer sein können, aber selbst die 1.75 Meter waren in Ordnung für eventuelle Täterbeschreibungen im Fernsehen. Er hatte noch nie eine Personenbeschreibung von sich gesehen. Insgeheim wartete er darauf. Es war wie eine Art Wette mit sich selbst, so dass es ihn bei den einen oder anderen Morden antrieb, ein wenig mehr von sich preiszugeben, als er es eigentlich gewollt hätte, allein, damit man ihn ein wenig erkennen konnte.

Morde an Angehörigen waren natürlich schwerer. Mitunter waren sie unmöglich, zumal er ja eine sehr behütete Kindheit genossen hatte.

Er ließ seinen Kopf in die Hände sinken und starrte auf den schwarzen Schreibtisch. Das Mahagoni sah bei näherer Betrachtung wie ein nächtlicher Störbildschirm aus. Er schrieb: Er hatte eine behütete Kindheit genossen.

Die beiden Sätze ergaben eigentlich keinen Sinn. Der eine und der andere für sich genommen vielleicht, aber beide als Anfang für einen Bericht über seinen Beruf. Er starrte zur rechten Seite. Das Bücherregal schien ihn auffressen zu wollen. Allgemeines Medizinstudium. Innere Medizin. Es war das dritte Mal, dass er an diesem Abend lachen musste.

Vielleicht hätte er sich als Mörder wirklich besser verdient gemacht. Vielleicht hatte er mit seinen Entscheidungen ja einen Mord begangen. Vielleicht sollte er einen Mord begehen. Lebenshilfe mit Todesfolge.

Es raschelte aus der Küche. Er wusste, dass seine Gedanken nun ein abruptes Ende nehmen mussten. Seine Füße schwitzten in den Sandalen und strömten einen Duft aus wie von Leichen.

Er löschte die beiden Sätze und beendete seine Sitzung. Wieder dieses laute Geräusch und dann die Frage aus dem anderen Raum: Ob er etwas gesagt habe.

„Nein, nein“, rief er zu laut zurück.

Dann stand er langsam auf und schaute auf die Buchrücken.

Vielleicht würde er es auch nie schaffen, ein wirklicher Mörder zu werden. Denn welcher Mörder hieß schon Jürgen.

Und dann trottete er zum Abendbrot und freute sich, seine Frau zu sehen. Irgendwie hatte er sie in der ganzen Zeit vermisst und erst jetzt kam es ihm so vor, als habe er einen schrecklichen Irrtum begangen.

Aber er vermochte nicht mehr zu erkennen, um welchen es sich handelte.

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