In meinem Buch “10 Dinge, die ich an der Schule hasse und wie wir sie ändern können” habe ich skizziert, welche Probleme ich mit bestimmten Schalthebeln des momentanen Schulsystems habe und welche Möglichkeiten ich sehe, schon bestehende Freiräume zu nutzen. An dieser Stelle möchte ich holzschnittartig erläutern, welche Art von System ich bevorzugen würde, wenn es möglich wäre, fundamentale Veränderungen vorzunehmen. Die Ausführungen werden bewusst thesenhaft belassen. Sie beruhen auf Überlegungen, die ich noch nicht zu Ende gedacht habe. Umso mehr würde ich mich über Kommentare, Anmerkungen und Kritik freuen, gerne mit weiterführenden Links. In den Thesen spreche ich der Einfachheit halber von der “neuen Schule.” 

1. Eine neue Schule braucht eine nationale Bildungsvision

Bevor dies weiter ausgeführt wird, muss man festhalten: Wenn in Deutschland über Bildung gesprochen wird, dann wird meist nicht über Bildung gesprochen. Widersprüchlich, aber wahr. Und natürlich sollte das Lernen, also der konkrete Aneignungsprozess, im Mittelpunkt stehen. Aber dadurch, dass der Bildungsbegriff als zu abstrakt und zu wenig praktikabel abgetan wird, öffnen sich Spielräume für unterschiedliche Verständnisse, die von Persönlichkeitsentwicklung bis Ausbildung für Berufe reichen.

Präziser formuliert: Wenn die Grundlage dessen fehlt, das man ändern möchte, sprechen alle über etwas anderes, obwohl sie meinen, über dasselbe zu reden. Eine nationale Bildungsvision, an der Politik, Wissenschaft, aber auch Praktiker mitwirken, könnte eine Leitlinie dafür sein, was wir überhaupt meinen, wenn wir von Bildung oder Lernen sprechen (für den zweiten Begriff gibt es mit “New Learning” einen Entwurf für ein neues Lernverständnis, an dem im Übrigen sehr viele Menschen aus unterschiedlichen Kontexten zusammengearbeitet haben).

2. Eine neue Schule bietet die Möglichkeit für längeres gemeinsames Lernen

Eine neue Schule muss das Versprechen der Chancengleichheit einlösen. Das ist schwierig, weil Schule oftmals der einzige Ort ist, an dem diese gleichzeitig ermöglicht und entwickelt werden kann (schlicht und einfach, weil die sozioökonomischen Bedingungen, aus der Kinder und Jugendliche starten, so unterschiedlich sind). In dem Buch “Mythos Bildung” vom Soziologen und ehemaligen Lehrer Aladin El-Mafaalani wird nachgewiesen, wie stark sich die Herkunft auf den schulischen Erfolg auswirkt, und, als weiterer Punkt, wie wenig der Kontext bei der Bewertung der Schüler:innen eine Rolle spielt.

Das ist vor allem bei der Selektion ab der 4. (oder auch 6.) Klasse fatal, weil unterschiedliche Faktoren dafür sorgen, dass über den (prognostizierten) Bildungserfolg im Vorhinein entschieden wird. Das Gegenteil von Chancengleichheit also. Ein längeres gemeinsames Lernen sorgt so nicht nur für eine größere Chance, Ungleichheit auszugleichen, sondern ermöglicht es auch, die Entscheidung über den Bildungsweg viel später zu treffen – und vor allem treffen zu können (wie es beispielsweise in Norwegen der Fall ist).

3. Eine neue Schule bietet Freiraum für schülerorientierte Projekte

Schülerorientierung wird immer wieder als eine Art neumodische Form der Kuschelpädagogik abgetan, die mit Leistung nichts zu tun hätte. Das ist nicht nur falsch, sondern missversteht auch den Nutzen von Freiräumen für Schüler:innen. Denn dabei geht es nicht zwangsläufig primär um dasselbe in modernem Gewand. Sondern es geht um eine andere Art von Lernen, bei dem die Fragen der Schüler:innen genauso wichtig sind wie die Antworten.

Dies aber soll nicht zu Willkür führen, sondern zu Teilhabe. Zu echter Partizipation, die in den meisten Schulen eine viel zu kleine Rolle spielt, und das, obwohl Demokratieerziehung als Leitperspektive beispielsweise im Bildungsplan in Baden-Württemberg steht. Eine neue Schule muss das Versprechen nach Demokratieerziehung ernst nehmen, allein deshalb weil sich eine Demokratieverdrossenheit abzeichnet, die in ihrer radikalisierten Form eine Gefahr für Leib und Leben darstellt.

4. Eine neue Schule entschlackt den Bildungsplan fundamental

Seit Jahren werden Schulen und die in ihnen arbeitenden Menschen (seien es Lehrkräfte, Schüler:innen, Hausmeister:innen oder Sekretär:innen) mit neuen Aufgaben überhäuft, ohne dass an anderer Stelle etwas wegfallen würde (bestes Beispiel: Digitalisierung. Alle genannten Personen sind betroffen und müssen zunächst Mehrarbeit leisten, sich fortbilden und so weiter. Entlastung: Keine). Wenn wir Demokratieerziehung, gemeinsames Lernen – und damit auch Integration, Inklusion und differenziertes Lernen – ernst nehmen wollen (und das ist nicht meine Idee, sondern steht schon jetzt in den Bildungsplänen), dann können wir die momentane “Stofffülle” nicht gleichzeitig erfüllen.

Da man es immer dazu sagen muss: Es ist kein Plädoyer, basale Kompetenzen zu beschneiden. Es geht explizit nicht um Kulturtechniken, die jeder Mensch nach der Schule braucht. Aber ich gehe davon aus, dass jede:r Lehrer:in auf Anhieb sagen könnte, welche Inhalte (die zwar oftmals Kompetenzen heißen, aber doch sehr nah an einem Stoffkanon sind) auch weggelassen werden könnten – zumindest dann, wenn in der anderen Waagschale fundamental wichtige Kompetenzen liegen, die für ein gesellschaftliches Zusammenleben essenziell sind.

5. Eine neue Schule differenziert später

Machen wir es kurz mit diesem wohl unrealistischsten Gedanken: Eine neue Schule, in der länger gelernt würde, sollte den Schüler:innen erst nach der 9.Klasse ermöglichen, sich zu entscheiden, wie es weitergeht. Mein Vorschlag: Wissenschaftspropädeutisch, also als Vorbereitung für ein Hochschulstudium, dual oder praktisch. Die grundsätzliche Möglichkeit der Differenzierung finde ich wichtig, einfach auch deshalb, weil die Talente und Wünsche von (jungen) Menschen in unterschiedliche Richtungen gehen. Wenn aber durch eine viel zu frühe Differenzierung Entscheidungen gar nicht getroffen werden können, dann ist das unfair.

In einem solchen System würde das Gymnasium also zu einem Schulabschnitt, einer gymnasialen Zweig. Dieser bedürfte eines eigenständigen Schwerpunktes in der Lehrer:innenausbildung und hätte, falls die Prüfungen in der Form, wie sie bisher bestehen, zur Folge, dass Deputatsstunden unterschiedliches Gewicht hätten, um die massiven Korrekturanforderungen und die (noch zu besprechenden Rückmeldungen) zu berücksichtigen. Um es deutlich zu machen: Dies liefe auf ungleiche Stundenanzahl und damit unterschiedliche Bezahlung raus. Aber es würde gerade dadurch das System fairer machen.

6. Eine neue Schule ersetzt Noten durch Kriterien und Rückmeldungen

Selbst Verfechter einer Schule ohne Noten ersetzen diese durch komplizierte Punktsysteme, die in letzter Instanz ja nichts anderes sind als eine Form der Pseudoobjektivität. Ob man nun 15 Punkte sammelt, eine 1 bekommt oder eben 25 von 25 Punkten sammelt, am Ende steht doch wieder eine Differenz, mit der man so tun kann, als habe man Unterschiede der Leistung auf das Komma genau ausgerechnet. Aus meiner Sicht bräuchten Schulen drei Kategorien: “Bestanden”, “Nicht bestanden”, “Mit Auszeichnung bestanden”. Die beiden ersten Kategorien sollen gewährleisten, dass dem Lernenden deutlich wird, ob eine Fähigkeit tatsächlich erlernt worden ist. Dies funktioniert vor allem, wenn man den Prozess berücksichtigt (siehe nächster Punkt).

Wichtiger als die Kategorien sind dabei die Rückmeldungen und Gespräche, die aus meiner Sicht eine andere Qualität annehmen, wenn es darum geht, ob man etwas beherrscht oder eben nicht. Die Kategorie der “Auszeichnung” finde ich wichtig, weil sie den Schüler:innen einen (zusätzlichen) Schwerpunkt ermöglichen könnte. Weitergedacht könnte dies beispielsweise dazu führen, dass eben nicht die holistische Abiturnote eine Rolle bei der Einstellung spielt, sondern ein erstes Indiz für die Eignung die Auszeichnung in selbstgewählten Fächern stehen könnte. Dies bleibt freilich nicht der einzige Maßstab, wie sich noch zeigen wird. Aber die Gespräche würden andere, wenn es nicht mehr darum geht, “was zu tun ist, im von einer 2- auf eine 2 zu kommen.” Wo soll denn da der wirkliche Unterschied liegen?

7. Eine neue Schule fokussiert sich auf den Prozess, nicht das Produkt

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Aus meiner Sicht ist in einem Fach wie Deutsch der Schritt zu einer zeitgemäßen Lernkultur gar nicht so weit, wie manche meinen. Denn aus meiner Sicht sollte zwar die Kooperation zwischen den Schüler:innen während eines Prozesses eine Rolle spielen; die Prüfung selbst sollte aber aus meiner Sicht (in den meisten Fällen) weiter eine Einzelleistung bleiben. Warum? Weil das Hinzuziehen von Experten oder Mitschüler:innen, wie es teilweise propagiert wird, das Gegenteil von fairer Gestaltung ist, sondern eine Betonung der Privilegien (wenn Papa Doktor ist, kennt er andere Experten; wenn das Kind populär ist, kann es mit allen zusammenarbeiten, andere eben nicht).

Stattdessen bietet gerade hier das Digitale und die Prozessorientierung einen Hebel für zeitgemäßere Formen der Leistungsbewertung. Das materialgestützte Schreiben von Texten beispielsweise, könnte die Recherche erst lehren und dann in die Überprüfung einfließen lassen, anstatt die Materialien vorzugeben. Eine Textanalyse könnte mit mobilen Endgeräten (aber der Referenzierungspflicht) geschrieben werden. Die Vorbereitung von Materialien und die Zusammenstellung könnte als Teil der Prüfung gewertet werden (wie es beispielsweise in den Textkompendien der Realschule im Fach Deutsch der Fall war). Der springende Punkt ist, dass das Lernen unterstützt und der Prozess begleitet wird, anstatt das einzig und allein eine Prüfung über alles entscheidet, in der man von den wichtigsten Ressourcen abgeschnitten ist.

8. Eine neue Schule verändert ihre Zertifikate

Vor dem Hintergrund der bisher beschriebenen Veränderungen sollte klar sein, dass am Ende kein Zertifikat mehr stehen könnte, in dem eine Gesamtpunktzahl oder eine scheinbar differenzierte Note steht. Das ist fundamental, weil schon jetzige Noten länderspezifisch so unterschiedlich sind, dass es nicht selten vorkommt, dass jemand mit einer sehr guten Abiturnote jemand anderem den Studienplatz “wegnimmt”, obwohl im Grunde die gleichen (Eingangs-)Leistungen vorhanden sind.

Das bedeutet nicht, dass man nicht dazulernen könnte, im Gegenteil. Aber wenn die gleichen Notenziffern unterschiedlich viel wert sind – was Realität ist – dann geben Sie keine Rückmeldung über das, was sie sollten: Qualifizierung. Eine Qualifizierung sollte anders geschehen. Zum einen durch die schon besprochenen Auszeichnungen. Zum anderen dadurch, dass das Zertifikat an Wert verliert und die Verantwortung auf die Universitäten und Hochschulen übertragen wird.

9. Eine neue Schule wird unterstützt durch Hochschulen, die die Aufgabe der Auswahl übernehmen

Es ist schon jetzt so, dass die Universitäten durch Klausuren ihre Studenten bestimmen. Aber das tun sie erstens nicht offiziell und zweitens innerhalb eines unfairen Wettbewerbs. Warum? Weil eine Studienbeschränkung, die beispielsweise mittels Numerus Clausus ermittelt wird, den föderalen Unterschieden nicht gerecht wird. Will sagen: Es kann schon sein, dass ein Student aus Bundesland A eine Arbeit bestehen würde, die der Student aus Bundesland B nicht bestehen würde. Das nützt A aber nichts, wenn B als der Einzige von beiden überhaupt die Chance bekommt, wie Arbeit zu schreiben.

Jede:r sollte studieren dürfen und können, keine Frage. Aber Auswahlmechanismen zu einem Zeitpunkt, indem das Grundlagenverständnis ermittelt wird, sind relevant. Dann muss aber nach dem Schulabschluss auch die gleiche Chance bestehen – egal aus welchem Bundesland man kommt.

10. Eine neue Schule qualifiziert ihre Lehrkräfte gemäß den Anforderungen für eine neue Zeit

Der Lehramtsstudiengang muss digital, teamorientiert und auf didaktische Grundlagen orientiert werden. Der letzte Punkt ist nicht zu verwechseln mit einer bloßen Praxisorientierung. Es wäre aus meiner Sicht fatal, wenn im Studium nur noch das gelehrt würde, das dann vermeintlich in der Schule relevant ist. Das Studium brauch auch zukünftig Möglichkeiten der Entfaltung, auch oder sogar vor allem dann, wenn es “nur” um eigene Interessen geht. Aber, und das ist wichtig, die Fähigkeit, unterschiedliche Themen zielorientiert aufzubereiten, und das in unterschiedlichen Medien und mit unterschiedlichen Methoden – das sollte ein zentraler Kern des Studiums werden.

Übrigens nicht nur des Lehramts. Denn die Aufbereitung von Information in einen Zustand, der es Unwissenden (im weitesten Sinne) erlaubt, diese zu verstehen, ist nahezu in jedem Berufszweig eine basale Fähigkeit. Das gilt im Übrigen auch für Teamorientierung. Lehrer seien Einzelkämpfer, heißt es immer wieder. Wie aber soll die Fähigkeit, mit anderen zu arbeiten, nach Jahren der optionalen Isolation vom Himmel fallen. Wenn eine Fähigkeit im Beruf zentral ist, muss sie auch in dessen Vorbereitung zentral sein. Dass die Befähigung dazu, reflektiertes Lernen im digitalen Wandel zu initiieren, im 21. Jahrhundert wichtig ist, das sollte im Grunde gar keiner Erwähnung wert sein. Aber es sei nochmals gesagt: Wir leben in einer digitalen Gesellschaft oder einer Gesellschaft, die geprägt wird von den Bedingungen der Digitalität, was zwangsläufig bedeutet, dass Lehrpersonen Experten dafür sein müssen, wie sich in einem solchen Kontext gut lernen lässt.

Fazit

Nahezu alle dieser Gedanken sind in den letzten Monaten entstanden, in denen ich vor allem über Fragen nachgedacht habe, die mir in Reaktion auf mein Buch gestellt worden sind. Ich sagte es schon, aber dennoch: Natürlich ist dies eine grobe Vereinfachung, zumal das deutsche Bildungssystem ein unglaublich komplexes Gebilde ist. Ich hoffe dennoch, dass sei eine Grundlage dafür sein kann, weiter über Bildung und Lernen nachzudenken. Ich habe weiterhin Lust dazu.

2 Kommentare

  1. Hallo Herr Blume,
    im Inhalteverzeichnis Ihres Buches konnte ich kein Kapitel “Lebensraum Schule” oä finden, und hier finde ich auch nichts.
    Beziehungsarbeit ist adressiert – als wichtiger Teil der i n h a l t l i c h e n Aneignungsprozesse, inkl. “Sich Hilfe holen”.
    Bei der Beziehungsarbeit mit Ziel, sich selbst, Andere – und alles dazwischen – verstehen zu lernen, werden in hohem Maße informelle und emotional unterlegte Lernprozesse aktiviert, die im Sachbezug oftmals als Störfaktoren registriert werden.
    Ich weiß, dass Sie darüber Bescheid wissen, wünsche mir aber umso mehr, dass Sie das Kapitel “Lebensraum Schule” noch ergänzen.

    Aus gegebenem Anlass habe ich mich mehrfach zu einem besonderen Aspekt dieses Kapitels geäußert – dem Gesundheitsschutz unter Pandemiebedingungen, in den ich ausdrücklich auch die psychische Gesundheit einbeziehe. Aus dieser Ausnahmelage lässt sich eine Menge zurück rechnen in einen Normalzustand, den ich die “Pandemiefeste Schule” nenne. Und diese funktioniert zwischen Stand-By vorbereiteter Maßnahmen, und der Beobachtungs- u. Pendelquarantäne für eine ganze Schule.
    Damit sachgerecht – sprich unter Einbezug der Sozialpädagogischen Dimension von Schule – umzugehen, gehört unabweisbar zu jeder Zukunftsschule.

Schreibe einen Kommentar zu Boris Johnson und Sebastian Kurz bekommen angesichts der Apokalypse hitzefrei und nutzen die Zeit zum Serienmarathon - Vermischtes 19.07.2022 - Deliberation Daily Antwort abbrechen

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