Nach meinen Ausführungen zur Deutungshypothese hat der geschätzte Medienexperte, Dozent und Lehrer Philippe Wampfler mir seine größte Form der Wertschätzung zukommen lassen: Die Kritik. Die Zusammenfassung könnte lauten: Da ich beim Veröffentlichen von strukturellen Hilfen davon profitiere, dass nicht nur meine eigenen Schüler*innen profitieren, stütze ich ein überkommen System. Meine Antwort als Texterörterung. 

Wampflers Text lässt sich in drei Abschnitte gliedern: Im ersten erläutert er die Aufgabe des Deutschunterrichts, um auf dieser Grundlage seine Ablehnung gegenüber Schemata zum Ausdruck zu bringen: Am Beispiel der Texterörterung, die Anstoß der Meinungsverschiedenheit gewesen ist. Er zieht Schlussfolgerungen, die seine Haltung erläutern. 

Der Beginn einer zunächst beschreibenden Definition des Deutschunterrichts erscheint bei der näheren Betrachtung als Ansammlung von Gemeinplätzen: Wampfler möchte

“Menschen befähigen, sprachlich Gesellschaft zu gestalten. Verschiedene relevante Äußerungen wahrzunehmen, darüber nachzudenken – und sich so zu äußern, dass daraus eine sinnvolle Wirkung resultiert.”

Wer mag dem widersprechen? Legte man diese Sicht der Dinge einer Deutschfachschaft zur Durchsicht, würde sie wohl achselzuckend anmerken: Ja, was denn sonst? Mehr noch: Der neue Bildungsplan von 2016 haut in genau dieselbe Kerbe, indem er festhält: “

“Die Ausbildung von Identität wie auch die Integration in komplexe soziale Zusammenhänge sind untrennbar verknüpft mit kontinuierlicher Reflexion über Sprache und der Erweiterung der individuellen sprachlichen Kompetenz.”

Und dies ist ein Ausschnitt. Selbstbestimmung, Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit werden selbstverständlich angemerkt. Bis dahin also kein Widerspruch.

Der entscheidende Punkt erfolgt noch nicht einmal bei jener entscheidender Aussage: 

“Was ich deshalb zu reduzieren versuche: Jede Art von Schematik oder von Rezepten.” Auch hier kann kein Einspruch erfolgen. Denken kann nicht in Schemata funktionieren.

Doch bevor der nächste Absatz betrachtet werden kann, erscheint der Hinweis auf mögliche Konnotationen sinnvoll. Dadurch, dass Wampfler den oben genannten Allgemeinplatz als subjektive Auffassung stilisiert und darauf aufbauend Schemata ablehnt, ist die Leerstelle deutlich: Es gibt andere. Diese anderen machen das Gegenteil. Eine erstaunlich undifferenzierte Gegenüberstellung, so sie denn wahr wäre. Dies also zunächst hypothetisch. Der nächste Absatz klärt auf: 

“Wer so über Kultur nachdenkt, dass andere damit etwas anfangen können, wird Deutungen vornehmen. Dass in einem Text an einem bestimmten Ort eine »Deutungshypothese« stehen muss, ist dafür weder notwendig noch hilfreich.”

Wer ist mit dem Subjekt gemeint? Jene, die überzeugt sind, dass eine Deutungshypothese hilfreich ist. Dabei ist das “Muss” interessant. Denn ob eine Deutungshypothese obligatorisch ist oder nicht, steht weder in meinem Aufsatz noch in den Kommentaren auf Twitter. Aber zunächst weiter im Text. 

Zunächst erfolgen zwei Annahmen, wobei eine davon zutrifft: Wampfler fasst meine Perspektive zusammen. 

“Bob, den ich mit dieser Kritik auch anspreche, sagt etwa (ich formuliere seine Haltung so, wie ich sie verstehe): Es gibt diese Vorgaben nun einfach und ich kann nichts daran ändern. Ich kann Schülerinnen und Schüler nicht im Stich lassen, auch wenn ich Vorgaben nicht mag.” 

Damit trifft Wampfler ins Schwarze. In der nächsten Antwort auf “Einwände” erklärt Philippe (wie ich ihn nun von der Norm abweichend nenne), dass man auch gegen unsinnige Vorgaben angehen müsse. Er stilisiert sich zum Kämpfer gegen ein unsinniges System. Das ist gut. 

Aber vor dem Hintergrund der angesprochenen Allgemeingültigkeit erscheint eine Gegenüberstellung von den “zeitgemäßen” und “systemerhaltenden” Positionen nicht nur vereinfachend, sondern sie untermauert eine Wir-gegen-die-Haltung. Dass ich dabei als Repräsentant des Systems herhalten muss, wäre so lange in Ordnung, wie eine Reaktion auf die zahlreichen Artikel erfolgt wäre, mit denen ich auf Probleme des Schulsystems hingewiesen habe und hinweisen werde. Die Reaktion auf Twitter dazu von Philippe: Er kenne die Texte. That’s it?

Schlussfolgernd kann man festhalten: 

  1. Die Perspektive von Philippe auf den Deutschunterricht ist eine weit anerkannte Realität.
  2. Dass ich diese verbessern ließe, steht außer Frage.
  3. Eine Aufteilung in die progressiven Individualisten und die konservativen Systemerhalter, ist nicht nur einfach, sondern kontraproduktiv.
  4. Saubere Argumentationen bedeuten, sich nicht auf Annahmen zu stürzen. Aus online sichtbaren Hilfestellungen pars pro toto eine absolute Haltung abzuleiten, erscheint gerade bei den zahlreichen Möglichkeiten der Kommunikation verwunderlich. 
  5. Deshalb auch hier ein appellativer Schluss: Wenn man sich unsicher ist, kann man einfach nachfragen.

Würde diese Texterörterung mit sehr gut bewertet werden? Wahrscheinlich nicht. Und zwar in der Tat deshalb, weil sie zahlreichen unsinnigen Normen nicht gerecht wird. Aber dennoch würde ich den Schüler*innen drei Mal deutlich machen, was von ihnen erwartet wird. Denn ich möchte sie zwar auch “befähigen, sprachlich Gesellschaft zu gestalten.” Aber ich werde sie bei der Erlangung des höchsten deutschen Bildungsabschlüsse dennoch nicht vor die Wand laufen lassen. 

3 Kommentare

  1. Ich habe deine Replik noch einmal ruhig gelesen.
    Deine Argumente:
    1.) Es bringt nichts, zwei Haltungen zu unterscheiden, wo wir doch alle im selben Boot sitzen.
    2.) Du bist nicht die Person, die ich kritisieren sollte, weil du dich auch kritisch äußerst.
    Meiner Meinung nach gehe ich in meinem Beitrag auf schulesocialmedia.com recht klar auf beide Argumente ein. Klar wissen fast alle Deutschlehrer*innen, dass es den Konflikt zwischen sinnvollem und vorgabengetreuem Unterricht gibt (ist wohl in vielen anderen Fächern auch so). Nur gibt es unterschiedliche Priorisierungen oder eben Haltungen, wie ich das nenne.
    Wenn ich in Deutschland (aber auch in der Schweiz) Weiterbildungen abhalte, dann spreche ich über sinnvollen Deutschunterricht. Ein Teil der Deutschlehrkräfte findet das interessant, nehmen davon was mit. Ein anderer Teil bringt Einwände vor: »Aber das geht ja gar nicht, wir *müssen* unseren SuS das so beibringen, weil die Prüfung auch so gestaltet ist…« 
    Die Haltung bestimmt, was wichtiger ist: Die Kritik an unsinnigen Vorgaben oder das Erfüllen dieser Vorgaben. Und ja, mein Vorwurf an dich besagt, dass dir das Erfüllen wichtiger ist, weil du mit vielen deiner Arbeiten Lernenden und Referendar*innen dabei »hilfst«, diese Vorgaben zu erfüllen – ohne dass du im gleichen Atemzug Kritik äußerst. »Die Kritik darf nicht zu einem abgelösten, fakultativen Teil einer Übungsanlage werden, bei der wir die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, im Hamsterrad möglichst aktiv zu strampeln«, habe ich in meinem Beitrag geschrieben. Genau das meine ich.
    Ich finde, es bringt etwas, die Haltungen zu benennen. Weil seit den frühen 70er-Jahren Diskussionen darüber geführt werden, dass Deutschunterricht zunehmen lebensfremd wird. Aber sich wenig geändert hat. Wer darauf verweist, dass das halt eine Spannung ist, die wir aushalten müssen, ändert nichts am System. Wenn ich daran etwas ändern möchte, muss ich hier kritisch und hart auftreten. Sonst bringt das nichts.

    • Na, das kritische und harte Auftreten finde ich auch nicht problematisch. Dass du meine Replik als Sophistik bezeichnest, hat mich gestört. Ja, Philippe, ich verstehe deine Kritik und ja, ich unterstütze die Schüler*innen dahingehend. Allerdings sehe ich nicht, dass ich sage, dass wir alle im selben Boot sitzen. Das tun wir nicht. Was ich nur versuche zu sagen, ist, dass die Kritik an der einen Position nicht bedeutet, dass man Repräsentant der anderen ist. Will sagen: Du kennst einen Bruchteil dessen, was ich mache (keiner von uns wird ja alles, was er oder sie im Unterricht macht in einen Artikel schreiben). Von diesem Bruchteil ausgehend erhebst du den Anspruch, eine ganzheitliche Haltung abzuleiten. Ich sage: Das geht so nicht. Das ist falsch. Und wenn ich nachfrage, was genau das bedeuten würde so zu handeln, dass du es gut fändest (völlig davon abgesehen, dass ich meine Handlungsweise nicht daraufhin ändern würde) bleibst du vage. Du zeigst, was du machst, weil du es kannst, und erwartest von anderen, dass sie das auch können. Es gibt mehr als zwei Haltungen. Und du kennst das, worüber ich schreibe, gut genug, um das deutlicher zu differenzieren. Das habe ich versucht deutlich zu machen.

      Und jetzt nochmal in ganz klar: Ich bin nicht gänzlich deiner Meinung, was deine Vision von Lernen angeht (weil du mal explizit sagtest, dass für dich dazu gehört, dass Leute, die keinen eigenen Antrieb haben, auf der Strecke bleiben). Aber das meiste, von dem du sprichst und schreibst sehe ich zumindest ähnlich.

      Aber, und das ist der Punkt: Das wird mich nicht davon abhalten, alle Möglichkeiten, die die digitale Kultur und Bildung mir bietet zu nutzen, um meinen und anderen Schüler*innen und Referendarinnen und Referendaren (interessant, dass du die nun auch noch reinbrachtest) Hilfestellungen dafür zu geben, formale, institutionelle Vorgaben zu erfüllen.

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