Bei seinem Besuch des Scheffel-Gymnasiums Lahr sprach Mario Röllig, 44, Angestellter des „Verbandes der Opfer des Stalinismus“ und ehemaliger Häftling der Staatssicherheit, über sein Leben zwischen familiärer Geborgenheit, loyaler Freundschaft und einem willkürlichen Unrechtsstaat.
Vom unpolitischen Jugendlichen zum politischen Menschen
Wird von einem „Zeitzeugen“ gesprochen, so denkt man zunächst an eine ältere, weißhaarige Person mit einem Bart, die einem von einer längst vergangenen Zeit erzählt. So passt Mario Röllig zunächst nicht in das typische Klischee: vor den Schülern und einigen Geschichtslehrern und Lehrerinnen steht ein schlanker, adrett gekleideter Mann, dessen modische schwarze Kleidung samt schwarzer Brille zunächst nichts von den Grausamkeiten vermuten lässt, die er über mehrere Monate über sich ergehen lassen musste und die sein Leben bis heute prägen. Doch von der ersten Minute an, in der er das Publikum in seinen Bann zieht, wird klar, dass sich hinter dem offen drein schauenden Menschen eine Persönlichkeit verbirgt, die unbeschreibliches erlebt hat. Und so spricht er von dem Leben in der DDR, einem Leben, das ihn vom unpolitischen Jugendlichen zum politischen Menschen werden ließ.
Das Leben hinter der Wohnungstür
Spricht Mario Röllig von seinem Leben, so könnte man meinen, es gehe um zwei verschiedene: da ist das öffentliche Leben, das den Kindergarten, die Schule und die Arbeit umfasst und das bestimmt wird von einem rigorosen Unrechtssystem, das das Recht für sich interpretieren kann wie es will. So hatte – in unserer Zeit unvorstellbar – jeder Schüler eine eigene Akte, in der Charaktereigenschaften, Stärken und Schwächen minutiös aufgeführt wurden, so dass jede Information den Schülern auch im späteren Leben zum Verhängnis werden konnte. Selbst die Schriftsteller, die gelesen wurden, konnten sich die Schüler nicht selbst aussuchen. Ungläubig hört man zu, wie Röllig von der Kindergartenzeit erzählt, einer Zeit in der selbst 5-jährige als „freiwillige Pflicht“ politische Lieder singen und am Tag der Arbeit marschieren mussten, unter ständiger „Aufsicht“ des als Wandbild im Spielraum hängenden Parteivorsitzenden Honecker. Eine Kindergärtnerin, die sich dem Kriegsspielzeug entgegen stellte, war da eine Ausnahme. Aber es gab sie.
Doch es gab auch das andere, das private Leben, das Röllig das „Leben hinter der Wohnungstür“ nennt. Hier hören die Kinder und deren Eltern amerikanisches Radio oder schauen Westfernsehen, so z.B. die ZDF-Hitparade oder Bonanza, und können für einen Augenblick die Freiheit genießen, die für ihre Landsleute hinter dem „eisernen Vorhang“ alltäglich ist. Es ist das Leben, das Röllig meint, wenn er von einer „behüteten Kindheit“ spricht, ein Leben, das viele Menschen schätzten.
Mit Franz Beckenbauer gegen den Staat
Bei seiner Einschulung bekam es Röllig das erste Mal direkt mit der langen Hand des Staates zu tun. Nach dem Sieg der Weltmeisterschaft 1974, die auch die DDR-Bürger, zumindest hinter vorgehaltener Hand, sehr erfreute, hatte Röllig ein knallgelbes T-Shirt mit dem das Siegtor schießenden Franz Beckenbauer von seiner Tante aus dem Westen geschenkt bekommen. Bei seinem ersten Fahnenapell zur Einschulung musste er an den geschockten Gesichtern der Lehrer erkennen, dass dies die falsche Entscheidung gewesen war. So musste er den weiteren Tag das Shirt auf links tragen. Doch auch etwas anderes wird deutlich. Wie konnten die Lehrer überhaupt Beckenbauer erkennen, wenn sie doch voll auf Parteilinie waren? Hier entblößt sich die scheinheilige Weltanschauung des SED-Regimes, in dem sich viele Menschen den staatlichen Anweisungen im privaten widersetzten, nur um sie dann in der Öffentlichkeit einzufordern. Rölligs T-Shirt war natürlich noch nicht als bewusster Widerstand geplant. Er besuchte die FDJ und beschwerte sich nicht darüber, dass Nicht-Mitglieder nicht mit auf Klassenfahrt wollten, eine Stummheit, über die er sich heute noch schämt. Das T-Shirt jedoch zog weitere Kreise. Röllig musste sich vor die Klasse stellen und der Lehrer stellte ihn bloß mit den Worten: „Schaut euch das T-Shirt an, es zeigt den Klassenfeind.“ Damals verstand er noch nicht, wie ein Fußballspieler politisch sein konnte. Doch auch andere westliche Markenkleidung war in der Schule nicht erwünscht. So mussten die Schüler, die Markenhosen aus dem Westen trugen, diese am Schultor von ihren Qualitätssiegeln befreien, überwacht vom Schulleiter und anderen Lehrern.
Aggressoren aus dem Westen
Das Gegeneinander zwischen Ost und West reichte in alle Fächer der Schule. So war in fast jeder Stunde der „militärische Schutz der Heimat“ gegen die „Aggressoren aus dem Westen“ ein Thema. Im Biologieunterricht wurde die Evolution am Beispiel der Entwicklung vom Urmenschen zum sozialistischen Menschen erläutert. Die Mauer, aufgebaut um die Menschen vor der Flucht in den durch die USA unterstützen Westen zu hindern, wurde in der Sprache der DDR zum „antifaschistischen Schutzwall“. Einer solchen Auffassung kamen Rölligs naiv-kindliche, und doch viel Wahrheit enthaltende Fragen nicht gerade entgegen: „Was sollen die denn bei uns holen?“, fragte er, woraufhin seine Eltern zunächst des ideologischen Versagens bezichtigt wurden und ihm der Weg zum Abitur versagt blieb. Wieso? Sei Vater hatte studiert und Planwirtschaft brauchte neue Arbeiter. So einfach ging das. Abitur hätte er jedoch gebraucht, um auf die Schauspielschule zu gehen. So blieb im nichts anderes übrig als auf seinen Vater zu hören, der ihm sagte: „Wenn du dich jetzt nicht bewirbst, dann sperren sie dich ein.“
Arbeitsscheue, asoziale Elemente
Was sich für unsere heutigen Ohren geradezu unglaublich anhört, war in der Rechtssprechung der DDR fest verankert. So wurde derjenige, der keine Arbeit suchte oder fand, nach § 249 StGB als „arbeitsscheues, asoziales Element“ der Gesellschaft bezeichnet, was einen direkten Gefängnisaufenthalt zur Folge haben konnte. Nach etwa 50 Bewerbungen fand Röllig eine Arbeitsstelle als Kellner am Flughafen Berlin-Schönefeld. Für damalige Verhältnisse kam dies einem Lotteriegewinn gleich. Nicht nur der Lohn bewegte sich in Sphären, von denen damalige Lehrer nur träumen konnten, von Arbeitern ganz zu schweigen. Zudem konnten es sich damalige Kellner leisten, nach einer durchzechten Nacht ihre Tische zu reservieren, ohne dass tatsächlich jemand reserviert hätte. Das volle Gehalt war garantiert, Planwirtschaft sei Dank. Auch wenn in einer Tauschgesellschaft, die die DDR zu großen Teilen war, Geld nicht so viel bedeutete, war die finanzielle Absicherung so gegeben. Das private Leben war es, das ihn vor zunehmende Schwierigkeiten stellte.
Falsche Freunde aus dem Westen
Nachdem Röllig sein Coming-Out als Homosexueller, und im Eifer seiner jugendlichen Schwärmerei in Ungarn seinen Freund – einen westdeutschen Staatssekretär – kennen gelernt hatte, kam es zum ersten Kontakt mit der Staatssicherheit. Röllig beschreibt die Beziehung zu seinem Freund, der aus dem Westen kam, als ein ständiges Auf und Ab zwischen der Freude des Zusammenseins und dem Abschiedsschmerz, den er jedes Mal wieder verspürte, als der Zug um 12 Uhr nachts gen Westen abfuhr. Schlimmer jedoch wurde es als ein Jahr nach dem Kennenlernen Stasi-Mitarbeiter bei seiner Arbeit auftauchten. Zwei Mitarbeiter bezichtigten ihn, „Kontakte zu Personen des Auslands“ zu unterhalten. Die Anweisung war einfach: „Geben Sie uns Informationen über Ihren Freund aus dem Westen.“ Für Röllig, der auch in seiner Familie und seinem Freundeskreis stets Loyalität als hohes Gut ansah, war die Antwort klar: „Freundschaft besteht aus Vertrauen.“ Und so sagte er den Stasi-Mitarbeitern nichts. Auch die Überzeugungsversuche, die ihm eine sofortige Aushändigung eines Trabanten in Aussicht stellten, einem Auto, auf das andere Personen bis zu 15 Jahre warten mussten, oder auch eine eigene Wohnung konnten ihn nicht umstimmen. Mehr noch. Als er auf die Frage, wo er denn gerne hinziehen würde, Berlin-Charlottenburg, also einen westlichen Teil Berlins angab, war, nach seinen eigenen Worten, seine „Existenz vernichtet.“
Druck und Denunziation
Nach dieser ersten Konfrontation übte die Stasi zunehmenden Druck auf Röllig aus. Nachdem der Versuch gescheitert war, ihn des Diebstahls zu bezichtigen – seine Arbeitskollegen und Freunde schützen ihn dahingehend – wurde seine Arbeitsstelle „aufgrund von Kosten“ gestrichen und er wurde an den Bahnhof Berlin-Grünwalde versetzt, um dort den Abwasch zu übernehmen. Die Aussage der Stasi war klar und ließ keinen Platz für Interpretationen: „Wenn Sie die Arbeitsstelle nicht annehmen, verhaften wir Sie als arbeitsscheues Element.“ Es war jedoch nicht die Arbeit in einem heruntergekommenen Bahnhof, die Röllig der Verzweiflung nahe brachte. Er musste Malträtierungen über sich ergehen lassen, die von Beschimpfungen zu einem menschenunwürdigen Umgang reichten.
Die Flucht als einziger Ausweg
Es war in dieser Zeit, in der Röllig die Flucht als einzigen Ausweg sah, sein Leben weiterleben zu können. So wollte er über Ungarn nach Jugoslawien an die bundesdeutsche Botschaft in Belgrad, seiner Zeit die einzige, die die Türe für politische Flüchtlinge nicht verschloss, um von dort nach Westdeutschland zu gelangen. Damals konnte er nicht ahnen, dass die Bauern an der Grenze aufgrund von miserablen Lebensbedingungen als Kopfgeldjäger ihren Lohn anzuheben versuchten. So beschreibt er eine Situation, in der er die Grenzlinie schon sieht, ein rufen hört, um sein Leben rennt und im letzten Augenblick – ausrutscht. Obwohl er bei seiner Festnahme die Tränen in den Augen der jungen Soldaten sehen konnte, die um ihrer eigenen Sicherheit willen nichts gegen seine Inhaftierung unternehmen konnten, war er nun schutzlos ausgeliefert. Er bekam eine warme Mahlzeit, eine Flasche Rotwein und mahnende Worte mit auf den Weg: „Das wird die letzte richtige Mahlzeit in Monaten.“
10 Kilo in einer Woche
Bevor Röllig weiter „verfrachtet“ wurde, in die zentralen Verhörstellen der Stasi, wurde er zunächst in Budapest festgehalten. Ein Aufenthalt dort bedeutete einen Gewichtsverlust von 10 Kilogramm – in einer Woche. Und Prügel. Röllig schaut in die Menge: „Mehr Prügel als Essen.“ Dann der Abtransport nach Berlin. Zuerst der Flug nach Ost-Berlin – Flughafen Schönefeld. Nach einer 5-stündigen Fahrt in kleinen Zwingern, die selbst für Tiere zu eng wären und in die sich so nur durch massive Angst überhaupt jemand hineinzwängen konnte, die Fahrt durch die ganze Stadt, die der Desorientierung der Gefangenen dienen sollte. Desorientierung und Angst. So wurde Röllig in eine „Backsteinfestung“ gebracht, in der die politischen gefangen gehalten wurden wie im Mittelalter. Die Ankunft in dem Gefängnis beschreibt Röllig als Alptraum: schreiende Stasi-Mitarbeiter, die in ihren Reiterhosen an nationalsozialistische Kleidungsverordnungen erinnern, Schläge, Tritte und ein ständiges Gefühl der Angst, hinter einem großen Tor, das die Gefangenen aus dem Leben in eine Parallelwelt reißt, fernab von Recht und Menschenwürde.
Röllig schaut in das Publikum: „Ich dachte, ich wäre im Nationalsozialismus.“
Auch das ständige Nachfragen nach einem rechtlichen Vertreter konnte den Stasi-Mitarbeitern, sofern sie überhaupt antworteten, nur ein Lächeln entlocken: „Die Rechtsanwälte arbeiten eng mit uns zusammen.“
Das Warten auf das Nichts
Was Röllig nun erzählt, geht nahe, ja, ist fast unerträglich anzuhören. Eingesperrt in einer kleinen Zelle, die neben Bett und Hocker nichts bietet, das die Inhaftierten beschäftigen könnte, ist ein Jeder einer anonymen Macht ausgeliefert. Starrend auf die Zellentüre – eine andere Position wurde weder erlaubt noch geduldet – wartete Röllig auf die endlosen Verhöre, auf die er sich freute. Ja, er freute sich darauf. Denn sie waren die einzige Möglichkeit der Ablenkung, die sich ihm und seinen Mitinhaftierten bot. Dann wieder: das Warten auf das Nichts. Drei mal in der Woche durfte er in eine kleine quadratische, von Mauern umrundete Zelle, in der er 10 bis 30 Minuten den Himmel sehen konnte – wenn keiner der Wachleute schaute. Denn selbst ein kurzer Blick in die blaue Freiheit konnte durch den schreienden Wachmann sanktioniert werden. „Kopf runter!“ hieß es dann und das letzte bisschen Hoffnung erstickte mit der Stimme des Wachmanns. Einmal sah Röllig eine Pan-American-Maschine am Himmel. Nur ein kurzer Blick sorgte für den schönsten Augenblick seiner Haft. In Gedanken saß er in dem Flieger und ließ alles hinter sich – die Haft, die Verhöre und die Angst vor dem Nichts. Hätte Röllig nicht Strategien gefunden, sich mit alten Gedichten aus der Schulzeit, dem Ausmessen seiner Zelle und Gedanken an seine Freunde, seinen Geist am Leben zu halten, sein Lebenswille wäre zerbrochen. Ein Leben hinter den Gittern der DDR hieß nur Pflichten, keine Rechte: wieder Sitzen mit dem Gesicht zur Tür, sonst stehen. Ständige Beobachtung, sogar beim Gang auf die Toilette. Nur ein paar Klopfzeichen erinnerten ihn daran, dass er nicht allein war; deuten indes konnte er sie nicht. Ständige Wehrlosigkeit und Hass, Wut, Angst, Schock. Nur einmal wehrte er sich: Röllig stellte sich auf seine Pritsche und stimmte mit voller Stimme den Udo Jürgens Hit „Ich war noch niemals in New York“ an. Nachdem er durch die Wachen zum Schweigen gebracht worden war, hörte er aus einer anderen Zelle die zweite Strophe des Liedes. Ein einfaches Lied sorgte für „Macht für ein paar Augenblicke“.
Das zugeschnittene Verhör
Hatte Röllig bei seiner Inhaftierung und vor dem ihn anbrüllenden Mann in Reiterstiefeln noch gedacht, er könne sich der Methoden der Stasi entziehen, wurde er schnell eines Besseren belehrt. So wurden die Verhöre von Menschen durchgeführt, die genau auf die Gefangenen zugeschnitten waren. Röllig bekam einen Mann „wie aus dem Modellkatalog“ zugewiesen, dem er sich öffnen und alles, was er wusste, preisgeben sollte. Er sollte alle denunzieren, die er kannte: Mitschüler, Lehrer, Menschen aus der Gemeinde, Umweltaktivisten. Für einen Staat, der Greenpeace als verlängerten Arm der CIA sieht, mochte dies plausibel erscheinen. Für Röllig hieß es andauernden Druck, andauernde Angst, andauernden Schmerz. Selbst vor seinen Eltern machte die Stasi keinen Halt. So sollte sein Vater unterschreiben, keinen Sohn mehr zu haben. Dieser aber blieb loyal: „Das ihr meinen Jungen einsperrt, dafür haben wir nicht gekämpft“, soll er dem Beamten gesagt haben. Daraufhin sorgten gezielt gestreute Gerüchte, Röllig sei ein Schwerverbrecher, für weitere Denunziationen. Erst der Gang der Eltern nach Westen zu einem befreundeten Anwalt ließ Hoffnung aufkommen. Röllig kam auf die Liste derer die freigekauft werden sollten. 40.000 Westmark für ein Menschenleben.
Der 7. März 1988
Bestimmte Daten haben in der Geschichte besondere Bedeutungen. Mal für einen Staat oder eine Bevölkerungsgruppe, mal für die Welt. Das obige Datum war dasjenige, das für Röllig den Weg in ein anderes Leben markierte. Nachdem er freigekauft werden konnte, wurde ihm mitgeteilt, er habe die DDR innerhalb von 7 Stunden zu verlassen. Selbst im letzten Augenblick ihrer Macht schreckte die Stasi nicht mit den nach ihr benannten Methoden zurück: „Wenn Sie über das sprechen, was mit Ihnen passiert ist… Ein Autounfall kann überall passieren.“ Nachdem er um 23:30 am Grenzübergang den Stempel in Empfang genommen hatte, konnte Röllig es kaum glauben. „Das“, sagt er, „war der schönste Augenblick in meinem Leben.“ Doch seine Angst verging zunächst nicht. Was, so dachte er, wenn die Maschine der British Airways über dem Osten Notlanden musste? Was, wenn er wieder ins Gefängnis musste? Aber so kam es nicht. Als er seine Freunde am Flughafen sah, als sie ihn, den lange Vermissten, endlich in die Arme schließen konnten, erst da wusste er, dass er es überstanden hatte.
Ein weiterer Rückschlag
Wer im Publikum dachte nun nicht an ein glückliches Ende, an eine Zusammenkunft mit Familie, Freunden und vor allem seiner großen Liebe. Doch Rölligs Leidensweg ging noch weiter. Freudig, ausgelassen, voller Mut ging er, nachdem er in Westberlin angekommen war, zu dem Menschen, den er als seine große Liebe kennengelernt hatte. An der Türe angekommen empfing ihn ein kleines Mädchen, das rief: „Papa, kannst du mal kommen.“ Er musste erfahren, dass die Beziehung, in die er all seine Hoffnungen gesetzt hatte, für seinen „Freund“ nichts weiter gewesen war, als eine sichere Liaison hinter dem eisernen Vorhang.
Der Fall der Mauer
Für viele Millionen Menschen in Ost und West war der Mauerfall mehr als die Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten. Er bedeutete die Zusammenführung von Freunden, Familien und Geliebten, die sich für lange Zeit selten oder – in den meisten Fällen – gar nicht hatten sehen können. Wie passen die gemischten Gefühle in dieses Bild, die Röllig beschreibt, wenn er an den denkwürdigen Abend des 9. Novembers 1989 denkt? Natürlich freute er sich, aber auch ein anderer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Hatte die Mauer ihn nach seiner Rettung nicht auch vor seinen Folterknechten geschützt? Hier wird Röllig drastisch: „Mir wurde klar, dass ich mit dem ganzen Gesindel weiterleben musste.“ Nur zu verständliche Worte eines Mannes, der die Abgründe der Menschen am eigenen Leib erfahren musste. Mit der „Flucht“ nach San Franzisko versuchte er eine räumliche Distanz zu schaffen, doch die Sehnsucht nach seiner Heimat trieb ihn zurück nach Deutschland, wo er als Betriebsrat und Verkäufer im Kaufhaus des Westens (KaDeWe) arbeiten konnte.
Die Vergangenheit in der Gegenwart
Vielleicht hätte er es überwinden, vielleicht mit seiner Geschichte leben können. Doch als am 17. Januar 1999 ein älterer, braun gebrannter Mann die Zigarettenabteilung des KaDeWe betrat und mit einem Packen von Geldscheinen 40 kubanische Cohiba-Zigarren kaufen wollte, veränderte sich sein Leben ein weiteres Mal. Er musste erkennen, dass eben jener Stasi-Mitarbeiter vor ihm stand und 40 Zigarren der besten Zigarren im ganzen Laden kaufen wollte, der ihn im Gefängnis verhört hatte. Doch das, was Röllig empfand, war nicht nur Hass. Er sah auch die Chance, zu verzeihen, die Vergangenheit hinter ihm zu lassen. Und so sprach er seinen Peiniger an. Die Antwort war kurz und mehr als Röllig ertragen konnte: „Na und?“, erwiderte der Alte in einem Ton, der Röllig schlagartig klar machte, dass sich nichts geändert hatte. Doch es ging noch weiter. „Haben Sie immer noch nicht begriffen, dass Sie zu Recht dort waren?“, schrie der Mann ihn in seinem eigenen Laden an. Was folgte war der Zusammenbruch.
Später Sieger der Geschichte
Nachdem bei Röllig eine posttraumatische Belastungsstörung erkannt worden war, die ihn zwei Mal in den versuchten Suizid trieb, sorgte eine Begegnung der ungewöhnlichen Art für Besserung. So rettete Röllig einen Mops, den sein betrunkenes Herrchen verprügelte. Er rettete Daphne das Leben. Und sie ihm. Seitdem, so sagt er, habe er keine Zeit mehr für Depressionen. Auch der Rat seiner Ärzte und Freunde war nach der Behandlung seiner psychogenen Lähmung eindeutig: Ein offener Umgang mit seiner Vergangenheit, Führungen in Hohenschönhausen und Vorträge. Und das ist es, was er tut. Er geht auf die Menschen zu. Er erzählt ihnen seine Geschichte, auf das sie zuhören und dafür sorgen, dass dieses schwarze Kapitel der deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Und er muss stetig kämpfen, gegen die ewig Gestrigen, jene Unverbesserlichen, die in ihm einen Feind sehen, die versuchen, ihr klägliches Leben zu rechtfertigen, indem sie ihre Verbrechen klein reden. Der Sinn ihres Lebens, so Röllig, ist ihr Hass auf das System. Ein System das Ihnen die Freiheit ermöglicht, überhaupt erst diese Gedanken zu äußern. Auch das Scheffel-Gymnasium kam in einem Bericht der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter und Geschichtsverdreher vor. Eben im Zusammenhang mit Röllig, den sie als Lügner und Heuchler noch heute versuchen zu denunzieren. Und das über 20 Jahre nach Ende der DDR. Doch Röllig setzt sich zu Wehr, immer weiter, immer wieder. Mit Hilfe des bekannten Anwalts Prof. Dr. Hegemann von der Humboldt-Universität Berlin, verklagte er die Denunzianten und bekam Recht. Einer TAZ-Mitarbeiterin verriet er, was er mit dem erstrittenen Geld vorhat: Eine Reise mit der Queen-Mary von Hamburg nach New York. Noch hat er das Geld nicht, aber ein paar Unverbesserliche gibt es immer. „Rache muss nicht immer bitter sein“, so Röllig.
Und so ist der Mann, der vor uns steht, und die berührende Geschichte seines Lebens erzählt wirklich als derjenige zu sehen, als der er sich selbst beschreibt: Ein später Sieger der Geschichte. Als Röllig fertig ist und um Fragen bittet, ertönt lang anhaltender Applaus. Aber Fragen bleiben aus. Jeder, so scheint es, muss zunächst mit dem fertig werden, das er gerade gehört hat. Röllig sieht immer noch freundlich drein. Aber man merkt ihm an, dass es auch anstrengend ist, seine Erfahrungen immer wieder hoch zu holen, sie zu durchleben. Durch seinen Bericht hat er gezeigt, dass Geschichte nicht das ist, was vorbei ist; sie ist Bestanteil unserer Gegenwart.