So schnell kann es gehen: Nachdem ich bei Twitter über Holger Müller-Hillebrands Grafik für eine mögliche Lösung aus der merkwürdigen Situation nach den Schulwiederöffnungen gestoßen bin, bat ich ihn um einen Gastbeitrag, den er nun auch geschrieben hat. Ich bin sehr dankbar und freue mich, wenn Holgers Ideen andere inspirieren können, die Schulöffnungen produktiv zu gestalten. Die Grafik findet man am Ende des Artikels. 

Mit Abstand gemeinsam

Präsenzunterricht als Hybridbarcamp

Schulen muten in diesen Tagen partiell dystopisch an: Flatterbänder, Stopp-Schilder, Richtungspfeile, Gesichtsmasken und Aufsichten überall, die einschreiten, wenn sich Menschen zu nahekommen. Waren viele Schulen auch schon vor Ausbruch der Corona-Epidemie keine erbaulichen Lernorte, so sind sie es jetzt noch weit weniger.

Dennoch startet der Präsenzunterricht in diesen Tagen wieder für einige Jahrgänge, in manch Bundesländern läuft er gar bereits seit dem 23. April. Doch Unterricht mit einer Handvoll Schülerinnen und Schülern, die an Einzeltischen mit rund zweieinhalb Metern Abstand – ein Meter Durchgangsraum wird zu den anderthalb Metern Abstandsgebot in der Regel hinzuaddiert – zueinander sitzen? Mit Jugendlichen, denen sich niemand auf mehr als 1,5 Meter nähern soll? Mit jungen Menschen, deren Familienangehörige mitunter zu den Risikogruppen zählen oder sich in finanzieller Not befinden, und die gewiss andere Sorgen umtreiben als Adverbialsätze, Algebra oder die Zellteilung? Zwar ist der Wunsch vieler nach einer Rückkehr zu einer Normalität, die es auf absehbare Zeit nicht mehr geben wird, nach einer Struktur, die so nicht mehr funktionieren wird, und nach häuslicher Entlastung, die in Teilen noch lange bestehen bleiben wird, durchaus verständlich. Doch erscheint Unterrichten, das zudem womöglich noch streng nach Lehrplan durchgeführt wird, derzeit ziemlich bizarr.

Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass in der momentanen Situation eigentlich nur zwei Sozialformen problemlos umgesetzt werden können: Frontalunterricht und Einzelarbeit. Mit anderen Worten: In einer Zeit, in der ohnehin Abstand und Distanz oberste Gebote sind, dürfen gerade die Stärken des Präsenzunterrichts nicht gelebt werden: keine Nähe, kaum Miteinander, praktisch ohne Differenzierung, wenig individuelle Begleitung.

Doch 90 Minuten oder mehr nur frontal im Gleichschritt und allein für sich arbeiten? Das sollte nicht sein – und das muss auch nicht sein. Sofern die Schule über einen hinreichenden WLAN-Zugang auch für Lernende verfügt oder sich ein Hotspot einrichten lässt und für alle Schülerinnen und Schüler digitale Endgeräte zur Verfügung stehen (oder sie sich diese nach dem Motto „bring your own device“ von zu Hause mitbringen können), kann auch in dieser Zeit mit Abstand gemeinsam gearbeitet werden – zum Beispiel in einer Art Hybrid-Barcamp. Hybrid-Barcamp? Das steht für eine Mischung aus Barcamp und Kolloquium, Vortrag oder – in diesem Fall – Plenumsgespräch. Ein Barcamp stellt eine „Unkonferenz“ dar, ein Zusammenkommen in weitgehend offenen Workshops, deren Inhalte und Ablauf von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu Beginn selbst entwickelt und im weiteren Verlauf gestaltet werden.

Das lässt sich auch mit Schülerinnen und Schülern gestalten – insbesondere mit älteren Lernenden aus den Abschlussjahrgängen, die derzeit vorrangig in die Schulen kommen. Zu Beginn eines solchen Barcamp-Unterrichts, der idealerweise unter einem Oberthema steht, sollte eine Aspektsammlung stehen, die von den Schülerinnen und Schülern selbst vorgenommen wird. Zu welchen Aspekten des Oberthemas möchten die Lernenden eine Session, also eine Teamarbeit, anbieten? Um eine Session anzubieten, muss man weder Expertin oder Experte dafür sein noch sich darauf vorbereiten. Es geht „nur“ darum, einen gemeinsamen Austausch zu einem Themenaspekt zu initiieren, der von den Schülerinnen und Schülern als relevant betrachtet wird.

Doch wie kann ein Austausch stattfinden, wenn man meterweit voneinander entfernt sitzen muss? Hier kommen die digitalen Endgeräte ins Spiel. Mit Hilfe eines Etherpad lässt sich eine gemeinsame Arbeit an einem Dokument arrangieren – natürlich auch über Räume hinweg, wenn die Lerngruppe geteilt werden muss. Stets können dabei Textdokumente mit Funktionen ähnlich der von Textverarbeitungen erstellt werden, in denen mehrere Lernende zeitgleich schreiben können. Alle Änderungen sind in Echtzeit nachverfolgbar, unterschiedliche Autorinnen und Autoren werden durch Namen oder Farbmarkierungen kenntlich gemacht. Manch Etherpad-Websites bieten auch weitere Kollaborations-Formate wie Präsentationen, Whiteboards, Tabellen oder Umfragen an. Nicht kommerzielle und niedrigschwellige Anbieter von Etherpads finden sich im Netz zuhauf, zum Beispiel ZumPad (www.zum.de/portal/ZUMpad), Cryptpad (https://cryptpad.fr)) oder Yopad (https://yopad.eu). Für die Anlage und Mitarbeit an einem kollaborativen Dokument sind bei den genannten Anbietern keine Registrierungen unter Angabe persönlicher Daten erforderlich, die Zusammenarbeit lässt sich sofort beginnen.

Sowohl die Themenfindung als auch die spätere Arbeit in den Sessions werden jeweils über Etherpads realisiert, die stets für alle Beteiligten einsehbar sind. Nachdem die Schülerinnen und Schüler im Zuge der Sammlung mehrere Themenaspekte eingetragen haben, die für sie relevant sind, sollte eine Kurzvorstellung der einzelnen Aspekte im Plenum erfolgen (bei einer Arbeit über mehrere Räume hinweg wäre hierfür eine Zusammenschaltung in einer Video-Konferenz vorstellbar, niedrigschwellig etwa über https://jitsi.org zu verwirklichen). Die Auswahl der letztlich durchzuführenden Sessions sollte anschließend über eine Abstimmung unter den Schülerinnen und Schülern erfolgen – die Sessions, die die meisten Interessenten erhalten, werden durchgeführt. Die Gesamtzahl der Sessions ist dabei abhängig von der Gruppengröße; idealerweise sind Sessions in diesem Format mit drei bis maximal fünf Schülerinnen und Schülern besetzt.

Während der folgenden Sessions, die zwischen 20 und 40 Minuten dauern können, arbeiten die jeweiligen Schülerinnen und Schüler wiederum in je einem Etherpad zusammen. Das Sessionziel kann dabei zuvor vereinbart oder den Teams freigestellt werden – je nach Themenaspekt könnte es beispielsweise ein Stichwortprotokoll, eine Fragensammlung, eine FAQ-Liste oder eine kleine Präsentation sein. Wichtig ist, dass die gemeinsame Arbeit auf dem Etherpad abgebildet wird. Solch Zusammenarbeit auf rein schriftlichem Weg ist für alle Beteiligten etwas gewöhnungsbedürftig, nach einer kurzen Einarbeitungszeit funktioniert sie aber in aller Regel ohne nennenswerte Probleme.

Der Hybridanteil an diesem Barcamp folgt im Anschluss an eine Session-Runde: In einem gemeinsamen Plenumsgespräch – ggf. abermals mit Hilfe einer Videokonferenz – werden alle Ergebnisse knapp vorgestellt, offene Fragen geklärt, ggf. Korrekturen vorgenommen und Vertiefungsaspekte erörtert. Wie weit und intensiv hier gegangen wird, sollte sich nach der Bedürfnislage und dem Ermessen einer jeden Lerngruppe richten.

Sind Schülerinnen und Schüler in der Lage, auf diese Weise gewinnbringend miteinander zu arbeiten? Ein klares Ja – und es sind gerade die von vielen Lehrenden skeptisch beäugten Komponenten Offenheit, Lernendenorientierung sowie Kollaboration, die dieses Format zum Erfolg führen. Denn statt eines dozierenden, gleichschrittigen Frontalunterrichts oder in Stillarbeit abzuarbeitender Aufgabenpäckchen benötigen Schülerinnen und Schüler (nicht nur!) in diesen Zeiten vor allem dreierlei: mitentscheiden zu können, sich austauschen zu können und aktiv sein zu können.

Holger Müller-Hillebrand

Lehrer und Fachleiter für Deutsch

www.fehlbildung.blog (im Aufbau)

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