Um die Vorrede kurz zu machen: Nachdem die Anwesenden die diesjährige Abiturrede beim Abiball gehört hatten, gab es Standing Ovations. Das war so gar nicht, was viele sich unter Abiturreden vorgestellt hatten. Aber diese Zeiten fordern wohl auch andere Reden. Nach dieser für mich beeindruckenden Rede fragte ich Emma, ob ich die Rede zusätzlich zur Veröffentlichung auf der Homepage auch auf dem Blog veröffentlichen könne, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Ich freue mich sehr, dass sie zugestimmt hat und überlasse ihr nun das Wort. 

Im Vorfeld dieser Rede hat man mich mehrmals explizit gebeten, darin doch BITTE nicht so negativ zu sein. Ich finde, das verdeutlicht ziemlich gut, wie geeignet ich mit meinem sonnigen Gemüt doch dafür bin, jetzt gerade hier oben zu stehen. Soll heißen ungefähr so geeignet wie gewisse amerikanische Unternehmer für eine Präsidentschaft. Da jetzt aber in beiden dieser Fälle eine (gelinde gesagt) suboptimale Wahl getroffen wurde, muss heute Abend trotz dieser anfänglichen Kritik mit mir Vorlieb genommen werden. Thematisch bin ich außerdem auch noch ungebunden; vondemher: hätte sich jemand in Deutsch doch nur mehr angestrengt, dann müsste man jetzt nicht mir als Misantrophin vom Dienst freie Hand lassen. Den obligatorischen sentimentalen Rückblick auf die letzten zwei Jahre überlasse ich folglich doch lieber Rednern, deren Gehirn tendenziell mehr Serotonin produziert als meines. Stattdessen möchte ich die folgenden 10 Minuten nutzen, um über Dinge zu sprechen, die meiner Meinung nach für uns als Abiturienten in Zukunft wichtig sein werden, auch wenn die folgende Thematik- oder vielmehr Problematik – alles andere als rosig ist. Ich verspreche, es endet in einer positiven Note!

Wir werden jetzt in eine Welt entlassen, die uns vorgaukelt, für nichts mehr einstehen zu müssen. Deutschland ist schließlich ein fortschrittliches Land, heißt es ja, anderswo ergehe es den Menschen viel schlechter. Frauen sind seit 1958 im Grundgesetz nach Artikel 3, Absatz 2 gleichberechtigt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare haben wir auch endlich durchgeboxt bekommen und Flüchtlinge nehmen wir zähneknirschend auf. Aber nur, weil wir auf einem guten Kurs sind, bedeutet das nicht, dass wir uns jetzt entspannt zurücklehnen können.

Denn wir tragen Verantwortung. Zugegebenermaßen muss hier keine Frau mehr ihren BH als Zeichen des Protests verbrennen, aber das heißt noch lange nicht, dass Sexismus ein Ding der Vergangenheit ist. Denn solange es immer noch eine Lohnlücke von 21% gibt und meiner 12-jährigen Schwester bei 30 Grad im Schatten von der Schule aus verboten wird, kurze Hosen zu tragen, gibt es keinen Grund zur Passivität. Solange das Wort Nein im Vokabular aufdringlicher Typen immer noch fehlt undman nach Frauen in hohen Führungspositionen vergeblich sucht, sollten wir uns noch nicht zufrieden geben.

Aber bevor die Herren der Schöpfung sich jetzt angegriffen fühlen: Sexismus diskriminiert nicht – zumindest nicht bei der Auswahl seiner Betroffenen; er propagiert beidseitig überholte Stereotypen. Auch ihr habimmer noch unter der verfahrenen Vorstellung, was denn nun ein „echter Mann“ wäre, zu leiden. Denn für „echte Männer“ sind Emotionen tabu, dafür aber ein Six-Pack absolutes Muss und „schwul“ ein vollkommen akzeptables Schimpfwort. Das schränkt nicht nur stark Interessen und Individualität ein, sondern führt im schlimmsten Fall sogar dazu, dass beispielsweise männliche Opfer von häuslicher Gewalt aus Scham davor zurückschrecken, sich Hilfe zu suchen.

Zu einem gewissen Grad liegt es deshalb an uns, mit gutem Beispiel voranzugehen, indem wir uns von Chauvinismus nicht beeindrucken lassen, veralteter Rollenverteilung den Kampf ansagen und insbesondere wir Abiturientinnen uns im Berufsleben von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Doch das wird sicher nicht die einzige Ungerechtigkeit sein, der wir in Zukunft begegnen werden. Denn so sehr wir uns auch verwundert darüber zeigen, wie in den USA ein Präsident gewählt werden konnte, der unter anderem eine Mauer zu Mexiko bauen will und sämtliche afrikanische Staaten „Arschloch Länder“ nennt; unser politisches Klima ist momentan auch nicht der Inbegriff von Toleranz. Auch wir haben zugelassen, dass eine Partei wie die AfD im Westen zur drittstärksten Kraft gewählt wurde, im ostdeutschen Raum sogar teilweise zur stärksten Kraft. Eine Partei, die zwar konstant verneint, rassistisch zu sein, deren Mitglieder aber trotzdem Äußerungen wie „Dem Flüchtling ist es doch egal, (…), an welcher Grenze er stirbt“ und „Von der NPD unterscheiden wir uns (…) durch unser bürgerliches Unterstützungsfeld, nicht so sehr durch Inhalte.“ zum Besten geben. Eine Partei, die die Flüchtlingskrise instrumentalisiert hat, um die Ängste der Bevölkerung zu schüren und sich so Wählerstimmen abzugreifen. Aber als ob das nicht schon schlimm genug wäre, müssen dank der zunehmenden Terrorgefahr jetzt auch noch sämtliche Muslime als Sündenbock und somit Zielscheibe rassistischer Übergriffe herhalten. Deshalb sollte jeder einzelne von uns Abiturienten, besonders jetzt, da die meisten von uns volljährig geworden sind, sein Recht auf politische Partizipation nutzen und dazu beitragen, dass Rassismus nicht die Oberhand gewinnt.

Glücklicherweise sind wir auch hier vom Windeck geprägt worden, da uns durch Initiativen wie „Windeck Weltoffen“ sowie unser Motto „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ bereits Toleranz und kulturelle Vielfalt als wichtige Werte gesellschaftlichen Zusammenlebens mit auf den Weg gegeben wurden.

Denn wenn wir uns aktiv um mehr Akzeptanz und Respekt bemühen, profitieren wir auch selbst davon. Natürlich wird man hier und dort mit einem genervten Augenrollen und Kommentaren a la „Seit wann bist du denn so ein linksversiffter Gutmensch?“ bedacht, aber das ist immer noch besser, als an veralteten Vorurteilen festzuhalten. Wenn wir nämlich anderen Menschen persönliche Freiheiten eingestehen, kommen wir auch selbst in den Genuss davon. Und manche dieser Freiheiten müssen sogar immer noch erkämpft werden. Man denke beispielsweise an die Belange der LGBT-Gemeinde; so wurden gleichgeschlechtlichen Paaren erst im Oktober vergangen Jahres das Recht auf eine standesamtliche Eheschließung zugestanden. Da könnte man sich doch jetzt denken: schön und gut, Fall geklärt, oder? Noch lange nicht, denn Kinder adoptieren dürfen sie immer noch nicht. Immerhin wäre es ja schädlich für die Kinder, ohne Vater beziehungsweise Mutter aufzuwachsen, und Opfer von Mobbing wären sie damit automatisch, so argumentieren zumindest homophobe Idioten. Und da wir in Biologie gelernt haben, dass wir nicht zur Klasse der Wirbellosen gehören, sollte man sich an diesem Punkt nicht rückgratlos zurücklehnen, sondern für andere einstehen auch wenn man nicht direkt betroffen ist. Denn wir können in Zukunft mit solchen Vorurteilen aufräumen und entgegnen, dass man vielleicht eher seinen Kindern beibringen sollte, anderer nicht aufgrund ihrer familiären Verhältnisse zu mobben, anstatt Waisen die Chance auf eine liebevolle Familie zu nehmen. So vieles wird in unserer Gesellschaft totgeschwiegen oder stigmatisiert, sodass Menschen anfangen, sich wegen Eigenschaften, für die sie nichts können, zu schämen. Was tangiert es Außenstehende, welche sexuelle Orientierung man hat, mit welchem Geschlecht man sich identifiziert oder welcher Religion man angehört? Und warum werden Menschen mit psychischen Problemen immer noch als gefährliche Freaks wahrgenommen? Niemand beschwert sich, wenn man wegen eines gebrochenen Beins zum Arzt geht; besucht man aber einen Therapeuten, wird man sofort schräg angeschaut. Man muss Phrasen wie „Das ist alles nur in deinem Kopf“ über sich ergehen lassen und für diese „Aufbauenden Worte“ auch noch dankbar sein, anstatt zu antworten: „Ja natürlich, wo denn sonst? In meiner Niere oder was?“. Und dann gibt es da noch Menschen, die sich das Recht nehmen, über die Körper und das Aussehen ihrer Mitmenschen zu urteilen und ein unrealistisches Ideal in den Medien zu propagieren. Deshalb nimmt die Zahl der an Esstörungen Erkrankten in Deutschland immer weiter zu. So abgedroschen es auch klingt, sollten wir also andere so akzeptieren, wie sie sind. Wenn wir gemeinsam auf ein humaneres Miteinander hinarbeiten, können wir uns auch selbst ungestört weiter entwickeln. Ich bin der festen Meinung, dass wir dazu im Stande sind, da ich unsere Stufe in den vergangenen Jahren und besonders rückblickend auf die Abivorbereitung als eine Gruppe erlebt habe, die sich gegenseitig unterstützt und den Rücken stärkt. Während unserer schulischen Laufbahn haben wir gelernt, dass wir viel weiterkommen, wenn wir uns gegenseitig aufbauen anstatt andere als Konkurrenten zu sehen und ich finde, dass ist uns auch übertragen aufs alltägliche Miteinander gut gelungen. An dieser Menschlichkeit sollten wir in Zukunft festhalten, denn wenn man ganze Gruppen von Anfang an als Feindbild sieht, bleibt der eigene Horizont auch dementsprechend beschränkt.

Von vielen Menschen wird man als Reaktion auf den Aufruf, ein Minimum an Empathie an den Tag zu legen angeschaut, als hätte man sie soeben darum gebeten, das Unmögliche möglich zu machen. Dann wird man nämlich automatisch als der verhasste Moralapostel abgestempelt, der allen den Spaß verdirbt und sich für etwas besseres hält als alle anderen. Genau diesen falschen Ruf können wir meiner Meinung nach ändern. Sich für soziale Gerechtigkeit stark zu machen heißt nicht, keine Satire mehr durchgehen zu lassen und jedem, der sich jemals auch nur eine unangebrachte Äußerung erlaubt hat mit Fackeln und Mistgabeln nachzustellen. Stattdessen geht es doch vielmehr darum, konstruktiv über Probleme aufzuklären und andere zum Umdenken zu bewegen. Und wenn wir eines in unserer Schulzeit gelernt haben, dann doch, wie man mit anderen in einen Dialog tritt und dabei auch wirklich miteinander kommuniziert. Obendrein haben wir mittlerweile, denke ich, genug Erörterungen geschrieben, um überzeugend und strukturiert argumentieren zu können.

Sich solche Missstände bewusst zu machen und vor allem, sie nicht blindlings hinzunehmen, finde ich alsonicht „zu negativ“, sondern geradezu zwingend notwendig, um selbst Positives bewirken zu können. Seine Augen nicht vor Ungerechtigkeiten zu verschließen und kritisch zu denken wird meiner Meinung nach immer mehr zu der Aufgabe unserer Generation. Abschließend möchte ich also niemanden zwingen, gleich zu Mutter Teresa 2.0 zu werden, sondern einfach, dass wir unsfür andere und das, was wir glauben, stark machen. Bildet euch stets eure eigene Meinung und schließt aber gleichzeitig andere nicht von der Diskussion aus! Kämpft dafür, dass unser Miteinander auch zukünftig von mehr Toleranz und Vielfalt geprägt wird! Denn schon Henry Rollins sagte: „Du erkennst immer das Zeichen eines Feiglings. Ein Feigling versteckt sich hinter Freiheit. Ein mutiger Mensch steht vor der Freiheit und verteidigt sie für andere.“

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit sowie die Ehre, den Scheffelpreis zu erhalten und wünsche allen weiterhin schöne Feierlichkeiten.

Emma Bohn

4 Kommentare

  1. Toll. Gehört zu den Dingen, die unseren Beruf so großartig machen. Allen Menschen zeigen, die auf „die Jugend von heute“ schimpfen.

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