Zombie-Walk. Foto: Thomas Clemens

Zusammen mit zahlreichen tagesaktuellen Medien fragt sich Jonny Haeusler was gegen den Hass im Internet zu tun ist – und bleibt ratlos. Es wird Zeit, dass die Größe des Problems erkannt wird.

 

Zur Vorgeschichte: Nach einem Aufruf zur Unterstützung auf seiner Seite, bekam der Schauspieler Til Schweiger dermaßen Gegenwind (und zwar bis hin zu offen rassistischen Auswüchsen), dass er mit einer für eine offizielle Seite krassen Replik reagierte:

Oh Mann- ich habs befürchtet!! Ihr seid zum Kotzen! Wirklich! Verpisst Euch von meiner Seite, empathieloses Pack! Mir wird schlecht!!!

Haeuslers Reaktion ist nahe an der Resignation:

Ich bin leider etwas ratlos, wie man dieser Entwicklung begegnen sollte, wie man sie stoppen kann. Hinnehmen kann und will ich sie nicht — aufgeben gilt nicht. Denn sonst heißt es am Ende tatsächlich: Haters gonna win.

Das Schlimme ist: nahezu jeder kennt die Kommentare derer, die nicht mal mehr davor zurückschrecken, Anfeindungen, Todesdrohungen oder offene Gewalt anzudrohen. Unter Bildern von brennenden Flüchtlingslagern stehen Sympathiebekundungen – für die Brandstifter (Hier eine Sammlung). Immer öfters scheint es tatsächlich so, als würde die Empathie immer weiter zurückgedrängt. Umso drängender bleibt die Frage: Wie sollen wir dieser Entwicklung begegnen?

Die Individualisierung und Defragmentierung (politischer) Inhalte, die das Internet bietet und jedem seine zementierte Filterblase lässt, ist nur eines der Probleme, denen schwer zu begegnen ist. Wie Ingrid Brodnig auf der re:publica 2015 überzeugend sagte: Die politische Debatte ist kaputt. Negative Äußerungen werden durch das wütende Kollektiv belohnt, durch Algorithmen gehypt und so zusätzlich verstärkt.


Die Umkehrung von moralischen Werten, die mittlerweile auch sprachlich angekommen ist, ist aber (leider) kein Problem der digitalen Debatte. Denn wenn sie es wäre, würde die oberflächliche Frage nach der digitalen Bekämpfung reichen. Die viel wichtigere Frage ist die, an welchen Orten und zu welchen Zeiten moralische Werte eingeübt werden sollen und können. Und da sind wir in der Kindheit, der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter. Die pauschale (aber völlig richtige) Antwort, dass es vor allem die Bildung richten könnte, funktioniert nicht mehr in einem Bildungssystem, das spätestens seit Bologna darauf abgerichtet ist, funktionierende Arbeitsmaschinen zu produzieren, die selbst in ihrer universitären Laufbahn ECTS-Punkten hinterherhecheln, um diese dann in Ziffern umzutauschen.

Wir haben kein Problem der digitalen Meinungsäußerung. Wir haben ein Problem der fehlenden Meinungsbildung.

Michael Seemann spricht im Zusammenhang über Merkels verunglückten Versuch, das weinende Flüchtlingskind zu trösten, von einem „Disconnect“.

Zunächst: in Merkels Welt – zwischen Koalitionsstreits, Außenpolitik und Medienauftritten – gibt es sowas wie existentielle Bedrohungen schlicht nicht. Das ist etwas, wozu sie sich überhaupt nicht emotional verbinden kann. Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Wir leiden unter einem demokratischen Disconnect. Und dieser ist gewollt. Konrad Paul Liessmann spricht in seiner grandiosen Entzauberung der neuen Bildungsreformen seit Bologna von der

Verschulung und Entwissenschaftlichung der Bachelor-Studiengänge und damit eine)r) Entakademisierung der Universitäten.

Und in den Schulen ist es nicht besser. An Realschulen beträgt die Stundenzahl des Faches Geschichte in der 9. und 10. Klasse oftmals eine (!) Stunde in der Woche. Und das in einem Fach, dass eine „europäische Identität“ aufbauen soll. Und überall werden die naiven, aber verständlichen Worte des Tweets der Kölner Schülerin Nainablabla wiedergekäut, die forderte, weniger Gedichte zu interpretieren und stattdessen Steuerrecht zu pauken. Geht es um solche Tendenzen, sind wir auf einem „guten“ Weg. Nun schreien die ersten nach einem Benimmfach. Als würde eine Stunde „Benehmen“ in Trichtermanier gute Staatsbürger aus den Menschen herauspressen.

Und nun? Die Antwort ist einfacher, als man meinen könnte: Meinung und Haltung, Moral und Ethik lässt sich nicht mit einer Stunde Benehmen und auch nicht mit ein paar ECTS-Stunden erlernen.

Haltung, Meinung und moralisches Urteilsvermögen brauchen Nahrung. Sie müssen gefüttert werden. Sie beruhen auf der Anschauung des Schönen, nicht nur des Nützlichen. Der Wahrnehmung von Nuancen, dem ernstgemeinten Austausch über menschliche Entscheidungen, die sie Literatur und Kunst bietet.

Wir haben kein Problem der digitalen Meinungsäußerung. Wir haben ein Problem der fehlenden ästhetischen Bildung.

Wir also können wir dieser Entwicklung begegnen? Wir müssen begreifen, dass eine Möglichkeit nicht bedeutet, dass sie genutzt wird. Ja, jeder kann alles aufrufen. Aber “jeder” macht es eben nicht. Man vergleiche die Aufrufzahlen des Projekts-Gutenberg, auf dem klassische Werke abgerufen werden können, mit denen eines Youtube-Stars, der über Schminke redet.

Ich weiß, ich weiß, was nun kommt ist zu einfach: Legere aude! Habe Mut, dich eines Buches zu bedienen!

Trotzdem: Wir alle, die befürchten, dass die rechten, simplifizierenden Stimmen in unserer Gesellschaft die Oberhand gewinnen, müssen verdammt nochmal alles dafür tun, dass Haltungen wieder en vogue werden.

Solidarität ist geil!

Und das geht nur mit geistiger Nahrung. Sonst werden wir weiter zusehen müssen, wie die Menschen unter einem moralischen Disconnect leiden.

 

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