Vorsicht Essay!

Ein junger Mann steht im Schlamm, es regnet, er würde gerne nach Hause gehen, eine kleine Wohnung in Leipzig, in der er sich von seiner Arbeit als Sekretär erholt. Nun muss er sich vorm Militär rechtfertigen, das fast 40 Jahre später eine weltberühmte Schlacht schlagen wird. Es ist 1774. Der junge Mann hatte es fertig gebracht, von seinem Ersparten dieses kleine Heftchen eines schon jetzt bekannten Dichters zu kaufen, in dem ein von tollkühner Liebe zerfressener Wilder wie er selbst aus Liebe oder aus dem Glauben zur Liebe zum Gewehr greift und sich tot schießt. Er weiß genau, wie dieser Werther aussieht, denn so sieht er auch gerade aus. Und genau deshalb wird er nun warten müssen, hier, im Matsch, denn der Leipziger Stadtrat hat die Werther-Tracht verboten. Ein Jahr später wird auch der Brief-Roman den Ängsten der Regierenden zum Opfer fallen, die in der Schrift eine „Empfehlung zum Selbstmord sehen.“

100 Jahre später wird der amerikanische Soziologe David Philipps vom Werther-Effekt sprechen. Grob gesagt, dem Wirkungszusammenhang zwischen Medien und ihren Rezipienten.

In unseren Zeiten wird es wohl kaum noch junge Leute geben, die sich aufgrund von Goethes berühmten Werk umbringen. Sie haben andere Vorbilder und andere Gründe, unglücklich zu sein. Vielleicht hat sich auch einfach der aufklärerisch anmutende Gedanke durchgesetzt, dass der Verbot eines Mediums nicht dazu führt, dass seine Wirkung nachlässt. Vielleicht aber auch nicht. Der Erfolg eines Mediums bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass seelische Prozesse in Gang gesetzt werden, die es vorher nicht gab. Es bedeutet vor allem, dass sich durch das Medium selbst das Selbst derer ausdrückt, die es nutzen. Die Plattform für die Darstellung und diskursive Kreation des eigenen Selbstverständnisses wechselt die Gestalt. Aber wird sie durch die Motoren der innovativen Kräfte einer Gesellschaft okkupiert, ist sie nicht mehr aufzuhalten.

40 Jahre nach dem amerikanischen Soziologen David Phillips kann man wieder von einem Werther-Effekt sprechen. Nur dieses Mal geschieht er anders herum. Das sich sträubende Schulsystem implementiert die Verbote der Kulturzugänge, die die junge Generation durch ihr Medium erfährt. Man könnte meinen, dass die Partizipierenden des Systems dies tun, um die Jugend vor den bösen Folgen zu schützen. Aber das tut sie nicht. Es ist der verzweifelte Versuch, sich selbst zu schützen. Und dies geschieht aus Mangel an Einsicht, Unverständnis und Angst.

Der Mangel an Einsicht ist dabei das Gravierendste. Er mutet an wie der verzweifelte Versuch der Obrigkeit, die jungen Menschen mögen doch bitte wieder Gellerts „Zärtliche Schwestern“ lesen und die Sanftmütigkeit des familiären Herzens in moderater Stille und stoischer Ruhe ertragen. Aber wie, wenn man das Stürmende, Ausufernde, die Leidenschaft über alles stellende brachiale Liebe des Nimmermüden in gelber Weste und blauem Tuchfrack aufgesogen hat? Da ist es doch kein Wunder, dass sich die Schüler dem Götzen von Berlichingen gleich auf die Mauer ihrer selbst kreierten Welt stellen und dem Hauptmann die geschichtlichen Unflätigkeiten um die Ohren hauen. Es geht nicht mehr darum, ob die Medien in die Schule Einzug erhalten. Es kann nicht mehr darum gehen. Die Frage ist nur, wann sie es tun.

Das Unverständnis ist und bleibt erhalten. Die Entfernung nimmt zu. Es ist, als würden die Alten sich an Form und Wirkung der alten Zeit festklammern. Bildung ist nur dann gut, wenn die moralische Katharsis durch den ehrwürdigen Meister in die Ohren gehaucht wird. Alleine stehen die Geschundenen da und Brüllen: „Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht los.“ Dabei ist es andersherum. Der Einzelne kann an dem Fortgang der Geschichte nichts ändern, dass formulierte Herder im Sinne des Götzens, indem er wie Goethe selbst in seiner Rede zum Shakespeare-Tag die „prätendierte Freiheit unseres Wollens (…) dem notwendigen Gang des Ganzen“ entgegen stellte. Das macht Angst.

Und Angst ist die Dritte im Bunde, die die alte Bildungselite in den Schulzentren aufschreien lässt. Wer soll das noch verstehen. Haben diejenigen, die es zu beschulen gilt, uns nicht abgehängt? Sind sie nicht längst weiter gerannt mit schlagendem Herz „wie ein Held zur Schlacht“? Vielleicht sind sie das. Aber das macht nichts. Mehr noch: Warum wundern wir uns nicht in aller Offenheit, mit aller zur Verfügung stehenden Neugierde? Wir müssen keine Selfies machen, um dort anzukommen, wo uns diejenigen abholen können, die wir eigentlich abholen sollten. Medien machen die Jugend nicht kaputt. Das Unwissen darüber, wie man mit ihnen umgeht vielleicht. Und diesem Unwissen kann man nur entgehen, wenn man über die Barrieren von Mangel an Einsicht, Unverständnis und Angst springt. Es gab einen Dichter, der diesen Wunsch auf eine einfache Formel brachte:

„Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.“

Wir sollten damit anfangen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein