Nach der Weihnachtsansprache des US-Amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden, sind wir alle gewarnt. Wieder einmal. Denn während die neuesten Versionen der angesagten Smart Phones gerade erst gierig aus den Schößen der Tannen dieser Welt geraubt wurden, können wir lesen, dass eben jene uns das Leben doch so einfach machenden kleinen Dinger kleine Detektoren seien, die die Horrorvision von George Orwells 1947 erschienenen Dystopie „1984“ wahr werden ließen.
George Orwell spielte seiner Zeit auf jene totalitäre Regime von Nazi-Deutschland bis zum faschistischen Italien an, die es fertig gebracht hatten, ihre Politik der Entmenschlichung bis hin in die Wohnzimmer zu tragen. Doch sind es in Orwells Zukunftsversion nicht mehr die abhörenden Schergen des Regimes, die die Menschen daran hindern, sich so zu entfalten, wie sie es gerne würden. Es sind die Fernsehgeräte selbst, die jeden Ton, jede falsche Bewegung der Bürger aufnehmen und schließlich für den schnellen Abtransport derer sorgen, die es wagen, leise Kritik zu üben (Dieser Satz wurde präsentiert von Sony).
Dies passiert freilich nicht, da das Regime die „Psychologie der Masse“ geschickt ausnutzt, indem es einen Feind erfindet, auf den mit kontinuierlicher Ausdrücklichkeit geschimpft wird. Diejenigen, die frei nach Platon aus der Höhle dieses Staates an das Licht schauen, sind so wenige, dass sich leicht auszumachen und unschädlich zu machen sind.
All das hört sich danach an, dass man dieses kleine Büchlein doch mal wieder auspacken sollte, zumal die meisten Kommentatoren wohl nur den Klappentext zu kennen scheinen. Einem Werk eine prophetische Stimme zu geben, ist das alte und neue Ausrufezeichen der sich als intellektuell gebenden Journaille. Dabei wird übersehen, dass es vor allem die Ungereimtheiten sind, die uns in unserer heutigen Zeit vor dem Hintergrund von Orwells Zukunftsvision nachdenklich machen müssten.
Obwohl das Buch einige Jahre lang – noch vor der Zeit, in der quasi jeder Haushalt die „Möglichkeiten“ des Internets sein eigen nennen konnte – in der Schule behandelt wurde, kritisierten Rezensenten und nicht zuletzt Orwell selbst, dass seine Charaktere zu flach erschaffen wurden. Dem eigentlich resignativen Protagonisten Winston Smith, der als wohl verdienter, aber leidenschaftsloser Arbeiter seinen Dienst im Verfälschen der Geschichte tut, nimmt man es so nicht so schnell ab, das er sich gegen das Gebot der Promiskuität wendet und sich in eine Arbeiterin verliebt. Diese Flausen werden den beiden schnell genug und mithilfe maschineller Unterstützung aus Herz und Gehirn getrieben. Interessanter Weise ist der stille Aufschrei, der Smith auch ohne eine wirklich überzeugende Figurenzeichnung des Autors gelingt, weitaus größer als jener aus unserer Zeit. Man könnte auch sagen: Der Aufschrei bleibt aus.
Wenn wir also schon dabei sind, unsere Gesellschaft mit jenen düsteren Zukunftsvisionen des vorherigen Jahrhunderts zu vergleichen, warum nicht einen Vergleich anstrengen, der noch nahe liegender ist.
1936 erschien die von Aldous Huxley geschriebene Dystopie „Brave New World“ gleichsam als ironische Anspielung auf Shakespeares „The Tempest“. In dieser Zukunftswelt werden die Menschen durch Konditionierung, die schon im Babyalter beginnt, darauf getrimmt, dass sie die Welt und ihre Stelle in dieser Welt niemals hinterfragen. Sie kommen als Alpha, Beta usw. Menschen auf die Welt und akzeptieren von Kindheit an, dass sie keinen anderen Platz wünschen, als ebenen jenen, der ihnen zugewiesen wurde. Und auch genau diesen Lebensentwurf. Auch dieser hat eine strenge Norm der Promiskuität als Grundlage. In seiner Freizeit beschäftigt man sich mit den Dingen, die der Staat produziert hat, da eine Nichtinanspruchnahme gleichsam die für die Arbeit erforderliche Produktivität hemmen und zu Unzufriedenheit führen würde.
Für die einsamen Momente der Freizeit gibt es eine durch den Staat verabreichte Droge, „Soma“, die keinerlei Nebenwirkungen hat, und die Benutzer in die gleichgültige Trance der Unwissenden driften lässt.
In einer solchen Welt ist direkte Kontrolle ab einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht mehr nötig, da man sichl nicht mehr über geschriebene Medien informieren kann, da diese abgeschafft wurden – einen Punkt, den die beiden Bücher gemeinsam haben – sondern sich die Menschen damit zufrieden geben, was sie haben, weil sie es eben so gelernt haben.
An dieser Stelle muss man natürlich aufpassen, dass die ja gerade Konjunktur habenden Vergleiche nicht auf die Spitze getrieben werden. Nur so viel: Als der indianische Held des Romans aus seiner „Wildnis“ in eben jene „Schöne, neue Welt“ kommt und die Umstände anprangert, wird er vom Desinteresse der an Blödheit gewöhnten nur so überwältigt. Mehr noch: Als er es wagt, den einfachen Arbeitern ihre Drogen wegzunehmen, um sie mental zu befreien, wird er fast zu Tode geprügelt und nur, welch Ironie, durch eben jenen Staat gerettet, den er zu bekämpfen gedachte.
Wehe dem, der es wagen würde, unsere Smart Phones wegzunehmen.
Natürlich ist unsere Welt viel komplexer, als dass sie die eine oder die andere Utopie vorzeichnen könnte. Aber über dem Moment, in dem wir uns erheben könnten und die Drogen, die uns als unverzichtbar in den Kopf gehämmert wurden, wegzuwerfen, scheinen wir hinweg. Wir sind Winston Smith, nachdem er von der Gehirnwäsche kam. Wir sind freudig gefangen in eben jener „Schönen, neuen Welt“, die wir auf der einen Seite zwar kritisieren können und wollen, weil es ein Teil unseres Ethos und die scheinbare Demokratie erlaubt.
Gleichzeitig schaffen wir es jedoch nicht mehr, die scheinbaren Axiome unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Viel zu sehr wollen wir die sich in Zahlen manifestierende Goutierung unserer Bekannten und Freunde, die unser Tun im Nachhinein legitimiert oder uns zeigt, dass wir nicht genug getan haben.
Zu sehr sind wir damit beschäftigt, uns zu produzieren, zu vervielfältigen und uns mit dem abspeisen zu lassen, das uns als das Richtige dargeboten wird. Wir verschenken unsere Privatheit mit dem Lächeln desjenigen, der den ewig wiederholten Lohn für seine Mühen als multifunktionales Statussymbol in den Händen hält.
Und in unserer selbst zugetragenen Lethargie ist die einzige Bewegung, die sich als revolutionäres Entgegenstrecken interpretieren ließe, das leblose Achselzucken mit gekrümmten Blick auf den Monitor.
Ja, wir sind weiter als „1984“. Auch weiter als „Brave New World.“ Und während die netzaktiven Gutmenschen dafür streiten, dass das Copyright entfällt und so alle alles lesen könnten, fragt sich der eine oder andere, ob man nicht erst einmal das eine oder andere Buch lesen könnte, das es jetzt schon frei verfügbar im Internet gibt und uns mehr über unsere Gesellschaft sagt, als jede Weihnachtsansprache.
Vielleicht aber schaffen wir nicht einmal mehr das. Vielleicht suhlen wir uns lieber in den vielen „Möglichkeiten“, die wir nicht auszuführen brauchen, sondern an denen wir nur schnuppern müssen, um uns dann entrüstet zu geben über den Zustand der bösen Welt.
Vielleicht lesen wir dann noch den einen oder anderen Artikel, aber nur, wenn er nicht zu lang ist. Ansonsten sind wir eher harmlose Revolutionäre, geben unseren Standort an, schreiben, wie es uns gefallen hat, holen tief Luft und zucken mit den Achseln.
Das würde Edward Snowden wahrscheinlich nicht gefallen.