KURZGESCHICHTE: Trotz alledem (2025)

Bob Blume
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6. Dezember 2025
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Vor einigen Jahren sprach ich mit einer Unternehmerin über ihren Weg aus der Armut und aus einem System von Bestrafung für Dinge, die die meisten Menschen als völlig normal betrachten. Diese Geschichte ist von dem Gespräch inspiriert.

Trotz alledem (2025), Bob Blume

Sie fror. Die ersten Minuten auf dem Balkon waren noch nicht so schlimm gewesen. Solange ihre roten Socken auf dem grünen Steinboden noch Schutz geboten hatten. Die Kälte kroch nun durch die Fasern. Sie kannte das. Heute hatte sie, nachdem sie allein gelassen wurde, schon früh mit den Beobachtungen angefangen.

Der Hof war ein Urwald, der nur an einigen Stellen durch etwas unterbrochen wurde, das mal ein Weg zwischen den Häusern gewesen sein musste. Zu ihrer Rechten war ein mit Zäunen abgegrenztes Grundstück, auf dem Berge mit Möbeln, Unrat und Hausmüll lagen. Von hier, wo sie stand, hätte sie dorthin spucken können. Das hatte sie auch schon getan. Aber heute war ihr nicht danach. Sie war nicht wütend genug. Das Häuserrechteck, in dem auch ihr Balkon war, versperrte die Sonne, die ihr ein wenig Wärme hätte geben können. Der Urwald des Hofes bestand aus einer breiten Fläche von Giersch, Knöterichen und Efeu, das die gegenüberliegende Häuserwand schon komplett überwuchert hatte. in der Mitte stand eine riesige Eiche, die nur noch wenige Blätter trug. Die Kälte stieg an ihr hoch. Ihre hellblaue Schlafanzughose bot genauso wenig Schutz wie das dünne Sweatshirt mit den drei Bären drauf. Zwei großen, die jeweils ein rotes und ein blaues Halstuch trugen, und ein einem kleinen, der eine Krawatte trug.

Natürlich war sie zu alt, es zu tragen. Hätte jemand aus der Schule sie so gesehen, hätte sie nie wieder kommen brauchen. Dann wäre sie unten durch, tiefer als der Giersch auf dem Vorplatz. Das war es auch gewesen, womit sie ihre Schwester aufgezogen hatte. Sie wusste, dass sie anderes hätte reagieren müssen. Die sich in sie hinabsinkende Kälte war ein eine stetige Erinnerung daran. Ihre Ohren begannen zu schmerzen. Sie versuchte, einen Gedanken zu fassen, der ihr Halt gab.

Irgendwann einmal würde sie einen Brief an ihre Eltern schreiben. Sie schüttelte sich, aber versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Und stark zu bleiben. Nur für sich selbst.

In Gedanken schrieb sie: „Hochverehrter Vater, liebe Mutter, ich möchte euch teilhaben lassen an Zeiten aus meinem Leben, über die wir nie gesprochen haben. Und die ihr nie mitbekommen habt, aber für die ihr die Verantwortung tragt.“

Das würde Spannung aufbauen. Sie würde an ihrem Schreibtisch auf einem Ledersessel sitzen, auf dem ein kleiner japanischer Bonsai stehen würde, clean, grazil, umrundet von handverlesenen Ziersteinen, den sie in Gesprächen mit ihren Geschäftspartnern als Ablenkung von den langweiligen Ausführungen mit einer Nagelschere beschneiden würde.

Ihre Eltern sollten sich fürchten, das kommt. Sie wollte in dem Brief, den sie im Kopf schon so oft geschrieben hatte, nicht sofort zum Thema kommen. Ihre Eltern, die dann schon alt wären und sich jeden Monat über das Geld freuen würden, was sie ihnen schicken würde, müssten nachdenken, was es wäre, was sie nicht mitbekommen hätten.

Die Kälte strich Aylin über den Körper. Sie hatte nun Gänsehaut auf ihren Armen und strich in schnellen Bewegungen mit über sie. Sie wollte sich nicht umdrehen. Aber sie wollte auch nicht über den Balkon schauen, nicht auf den Müll, nicht die Überwucherungen des Gartens. Sie fixierte die Mauer direkt vor sich. Sie war einmal weiß gewesen, hatte nun zahlreiche Risse, unter denen man grauen Beton sehen konnte. Zu ihrer rechten war in einem Abstand von einem halben Meter eine grüne Halterung befestigt, in die man einen Blumentopf einlassen konnte. Aber der einzige Blumentopf auf dem Balkon lag in der gegenüberliegenden Seite. Er war rund und hätte gar nicht erst gepasst. Und er war zerbrochen. Sie fasste an ihre Ohren, die so kalt waren, dass sie sie kaum noch spürte. Sie legte ihre Haare über sie.

Hätte sie sich herumgedreht, hätte sie im Fenster, zwischen den weißen Rüschen des Vorhangs hindurch Teile des Badezimmers gesehen. Die kleine Dusche, deren Plastikumrandung von schwarzem Schimmel zerfressen war. Die Parfümsammlung der Mutter, das Rasierwerkzeug des Vaters.

Sie war sich sicher, dass Elif es gar nicht so gewollt hatte. In ihrem Alter hatte sie die Konsequenz nicht kommen sehen. Sie hatten noch beim Frühstück gesessen und ihr Vater hatte streng von der Zeitung aufgeschaut, weil sie noch im Schlafanzug gewesen war. Ihre Mutter schaute vor sich auf den Teller und regte sich nicht. Vielleicht spürte sie, dass da etwas eskalieren könnte. Dann hatte Elif gesagt, wie die Bären aussehen würden. Wie die Familie von Max auf der Feier.

Da konnte sie nicht an sich halten. Max, der sie dauernd auf dem Kieker hatte, weil er wusste, dass er nicht nach oben grausam sein konnte, sondern nur nach unten. Und dass dann schon sie kam.

Und auf der Schulfeier hatte seine Familie tatsächlich ausgesehen wie die Bärenfamilie auf dem Schlafanzug. Nicht so süß und ohne Fell, aber völlig ungefährlich. Das hatte ihr die Kraft gegeben, beim nächsten Mal nicht nachzugeben, und all das auszuhalten, was er ihr in der Pause an den Kopf schmiss. „Damals, als ihr mich bestraftet, habe ich viel Zeit gehabt, um über euch nachzudenken. Und ich bin zu einem Entschluss gekommen“, schrieb sie weiter im Kopf.
Sie hatte also an Max gedacht und an sich heruntergeschaut, mit den Zeigefingern und den Daumen das Shirt hochgenommen und auf den kleinen Bären geschaut. Und dann hatte sie das Verbot vergessen und so sehr gelacht. So sehr gelacht. Und das nächste war schon der Griff des Vaters gewesen, das Aufschreien von Elif, eine kurze, aber resignierte Bewegung der Mutter, ein Schmerz im Nacken. Und seitdem stand sie hier. Die Kälte ließ sie nun nicht mehr los. Sie zuckte willkürlich. Aber sie schaute nicht nach hinten.

Erst, als sie das Klicken des Türschlosses hörte, drehte sie sich. Ihre Mutter schaute sie an. So liebevoll, so liebevoll, aber ohne Mitleid. „Komm wieder rein“, sagte sie. Die ersten Male hatte sie darüber nachgedacht, stur zu bleiben. Hatte es einmal angedeutet, aber von der Mutter sofort eine geklatscht bekommen. „Komm wieder rein“, wiederholte sie. Und Aylin ging, natürlich ging sie, denn alles, was sie wollte, war es, nicht mehr zu frieren.

„Der Entschluss, zu dem ich gekommen bin“, schrieb sie den Brief in Gedanken weiter, während sie auf dem Sofa lag und ihren çay trank, ist, dass ich euch vergebe. Ich vergebe euch, weil ich euch liebe. So sehr liebe! Aber bitte, bitte lasst mich euch sagen, dass ich gerne mit euch gelacht hätte. Ich hätte gerne mit euch gelacht.“

Das würde sie schreiben, irgendwann, wenn sie auf ihrem Ledersitz sitzen würde, in einem Hochhaus ohne Balkon, von dem sie durch dicke Fenstergläser herunterschauen würde in eine Stadt, die sie jetzt noch nicht kannte. Durch saubere Gärten würde sie gehen mit Elif und laut lachen über Max, den Teddybären, und darüber, wie schnell die Zeit vergeht. Und wie Wunden nicht heilen, aber zu Erinnerungen werden. Und wenn es kalt würde, würde sie zurück gehen in ihre Wohnung und einen çay trinken, glücklich sein und nie wieder frieren.

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