Foto: Thomas Clemens

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Casper alias Benjamin Griffey ist mal wieder ein Meisterwerk gelungen. Nicht nur musikalisch erhebt er sich schon mit der ersten Single über das nach XOXO eher hinter den Erwartungen zurückgebliebene Hinterland. Dass dies so ist, liegt nicht nur an der atmosphärisch dichten, melancholischen Melodie, die den Beat als treibende Kraft in den Hintergrund drückt, sondern vor allem an der sprachlichen Metaphorik.

 

Warnung: Das Video enthält Szenen extremer Gewalt. Es wird empfohlen sich diese erst ab 16 anzuschauen!

Da ich Casper für einen literarisch anspruchsvollen Vertreter halte, den man hinsichtlich seines sprachlichen Diversität, des wütenden Ausdrucks und der Themen theoretisch mit den frühen jungen wilden Expressionisten vergleichen könnte, lohnt es sich, einige Geheimnisse des Textes zu lüften. Während die Schüler*innen in der Schule Lyrik interpretieren, analysiert der Lehrer online Rap-Texte. Welch Ironie des Schicksals.

Mithilfe von Casper lassen sich auch Gedichtinterpretationen besser verstehen:

Das Lied ist für einen Rap-Text nicht lang. Es beginnt, entgegen der Konvention, mit einem langsam gesungenen Refrain (gesungen von Sizarr). Es lohnt sich auf die Besonderheiten zu achten:

Bist du auch so verliebt?
Meine Lust will, dass es uns ewig gibt
Und so singt sie ein Lied und noch ein Lied
Auf dass es uns ewig gibt

Hier spricht jemand direkt mit dem Hörer (bzw. Leser). Das lyrische Ich kann annehmen, dass wir in der Tat vergnügt sind, denn wir erfreuen uns an der Kunst, die hier mit uns kommuniziert. Der schnelle Wechsel auf das Ich – aber nur fast: Die „Lust“ als Personifikation ist Subjekt eines Wunsches, nicht das Ich oder Wir. Das ist wichtig. Die Lust ist herausgelöst von dem eigentlichen Ich. Und sie verlangt nichts Anderes als Unsterblichkeit. Und da die Lust dies will, singt sie immer weiter, so dass der Sänger und der Hörer („uns“) dadurch ewig leben. Zu schwierig?

Vereinfacht gesagt, ist hier schon die Kritik an unserer verschlafenen Unterhaltungsgeilheit zu erahnen. Wir sind verliebt in das Ereignis, wir hören noch ein Lied und noch ein Lied und träumen uns in die Ewigkeit. Das Gegenteil davon wäre? Richtig, der Tod. Aber langsam.

In typischer Rap-Manier, die den Live-Auftritt des Publikums einbezieht, stellt Casper nun in den ersten Versen rhetorische Fragen, die gleichzeitig ironisch sind, denn auf jede der Fragen muss das Publikum gleichzeitig „Ja“ sagen und sich dann fragen, ob dieses Ja, diese Handlung nicht kritikwürdig ist. Denn:

Ist es das, was ihr wollt?
Ist es das, was ihr liebt?
Klatscht ihr brav im Takt, he?
Seid ihr vergnügt, he?

heißt ja, dass „wir“, das Publikum, uniform sind und nach dem Erlebnis trachten. Nach welchem, folgt:

Lang lebe der Tod!
Lang, lang lebe der Tod – unser täglich Brot
Alles schon gesehen, alles schon gewohnt
Alles schon erlebt – Unterhaltung, los!

Um nicht den Bogen zu weit zu spannen, kann jeder sich selbst prüfen, welche Form visueller oder sprachlicher Verrohung er durch Youtube noch nicht gesehen hat. Welche Art der fast übermenschlichen Leistung ihm oder ihr noch für ein Lächeln oder ein Schulterzucken sorgt. Es gibt nicht mehr viele.

Wir werden also als diejenigen angesprochen, für die nichts mehr richtige Bedeutung hat, eben außer dem Tod, an den wir später explizit denken sollen. Es folgen konkrete wie metaphorische Beschreibungen dessen, was wir – wie oben erwähnt – schon an Unterhaltung erlebt haben. Und was tatsächlich „unser täglich Brot“ ist.

Spring durch den brennenden Reif
Tanz auf dem heißen Eisen, zeig’ die Beißer, ja, führt ihn im Kreis
Klopf an die Scheibe, sonst pennt er noch ein
Darf nicht sein – Nein! Nein! Nein!
Oh, so gelacht, aber bloß auf Distanz
Fotos gemacht, war dem Monster so nah
So wunderbar, Spiel und Brot für die Massen – ja!

Das lyrische Ich spielt hier nicht nur an das Verlorensein eines Tieres im Zoo an, sondern stellt einen direkten Bezug zum Sänger bzw. Sprecher selbst her, der seine Kunststücke vollbringen muss, immer das gleiche tut und den man animiert, ja damit weiter zu machen, damit man selbst – in den Worten des Textes – das Lied ewig weiter singt (Autobiographischer gibt es dieses Motiv in dem früher erschienenen Lied „Guten Morgen Herzinfarkt!“).

Wir als Publikum werden zu Tätern, die nie zufrieden sind, denn obwohl wir „so gelacht“ haben, wollen wir immer näher dran („bloß auf Distanz“) und Fotos machen. Das römische Motto panem et circenses (also Brot und Spiele) wird nicht zufällig erwähnt. Denn die Gladiatorenkämpfe im Kolosseum waren oftmals ein Trick der Mächtigen, von politischen Missständen abzulenken. Während Casper also in XOXO die „Versager mit Stil“ („Der Druck steigt“) noch auf die Straße schickt, sieht er sich hier schon selbst als Teil der Maschinerie, die als Monster im Kreis laufend das faule Publikum – also uns – erheitert.

Nach einem weiteren Refrain folgt der zweite Rap-Part (Kleine Anmerkung: Oftmals höre ich die Frage, wenn es um Dichter geht: „Sind Sie sicher, dass das alles so beabsichtigt ist?“ Und die Antwort ist meistens ein Ja. Selbst wenn manche stilistischen Kniffe aus Zufall passieren, können sie natürlich in eine Analyse mit einfließen. Hier eben die Tatsache, dass der Refrain – also der sich wiederholende Teil des Liedes – von einer ewigen Wiederholung spricht. Das ist schon grandios, um etwas subjektiv zu sein).

Lass die Hunde los, lass die Hunde los
Will sehen, wie die flehen, die sollen bluten, los!
Dafür hab’n wir gezahlt, wir hab’n guten Grund
Gutes Geld, verdammt, gib ihm die Kugel schon!
Süße Drinks, Nüsse, Chips
Prima-Blick-Kinositz, will sehen, wie’s an die Linse spritzt
Werfen Rosen herab vom obersten Rang
Wir sind todesgespannt

Diejenigen, die Casper schon etwas länger kennen, kennen auch die losgelassenen Hunde bzw. Wölfe, die losgelassen werden. Hier sind sie wieder Teil der Beschreibung unserer Unterhaltungssucht. Das lyrische Ich übernimmt unsere Stimme, wie sie fleht, dass etwas passieren soll, was wir noch nicht kennen. Wir zahlen dafür, dass etwas passiert; nicht nur dann, wenn es schlimm ist, nein, es soll sogar schlimm sein, weil wir ja schon alles andere kennen. Es geht so weit, dass wir den Tod fordern; hier stirbt der in den Ring geführte Hund. Wer ist noch gemeint?

Wir wohnen dem Sterben mit Süßigkeiten bei. Wir lassen uns unterhalten, sind gespannt und freuen uns, wenn wir so nah dran sind, dass es „an die Linse spritzt“.

Lang lebe der Tod!
Lang, lang, lang, lang lebe der Tod!
Unser täglich Brot – lang lebe der Tod!

Lang, lang, lang, lang lebe der Tod!

Die Bridge ist namensgebend für das Lied. Aber wie ist sie gemeint? Sollen wir mit Casper zusammen den Tod abfeiern? Oder ist es als Gegensatz zu carpe diem (Nutze den Tag), also als auch schon im deutschen Barock vorkommendes memento mori (Also etwa: Erinnere dich daran, dass du sterben wirst). Könnte sein, aber nein.

Die schon zuvor getätigte Aussage „unser täglich Brot“ zeigt, dass dies keine Aufforderung ist, sondern dass hier etwas genannt wird, dass sowieso schon so ist. Warum? Weil wir in einer Welt, in der wir, wie oben gesagt, schon alles gesehen und gehört haben, nur noch wenige Dinge haben, die uns an unsere Endlichkeit erinnern. Und was könnte dies mehr als die Endlichkeit schlechthin: Der Tod.

Nach einer weiteren Wiederholung dann die Erkenntnis:

Bist du auch so vergnügt?
Oh, wie schön heut das Leben zu uns lügt
Und wie mein Herz vor Liebe fast verglüht

Schau, wie der Frühling heute blüht!

Natürlich eigentlich eine Paradoxie, denn man möchte meinen, dass eine Lüge nicht schön ist. Gemeint ist aber unsere Offenheit, die ewige Unterhaltung, die uns umgibt und mit der wir uns vor dem Wichtigen verstecken, als „das Leben“ hinzunehmen, obwohl wir es besser wissen müssten.

Und das alles, obwohl wir so viel Liebe in uns tragen, dass wir sie nur auf das lenken müssten, was um uns herum ist, zum Beispiel den Frühling.

Foto: Thomas Clemens
Foto: Thomas Clemens

 

Dass das lyrische Ich uns hier am Ende nochmals auffordert, zu schauen, wie der Frühling blüht, ist kein Zufall. Denn in der lyrischen Tradition ist der Frühling auch immer ein Neuanfang. Vielleicht also auch die Aufforderung, uns von der ewigwährenden Dauerunterhaltung zu lösen und unsere Umwelt wahrzunehmen.

Das mag alles weit hergeholt klingen und mit Sicherheit gibt es hier, wie auch bei anderen literarischen Werken, verschiedene Möglichkeiten. Aber der Kern sollte klar sein: Hier spielt jemand mit unserer Erwartungshaltung und hält uns den Spiegel vor Augen. Was wir sehen sind wir in unserer gnadenlosen Lust, noch mehr, noch länger und noch schrecklichere Dinge zu sehen und zu hören. Und schöne.

Das Lied ist somit gleichzeitig Krankheit und Heilung in einem.

 

 

8 Kommentare

  1. Schöne Analyse. Wenn auch stilistisch nicht herausragend (sehr schulisch), so doch inhaltlich absolut ins Schwarze getroffen. Der Text hat so einige meiner Hypothesen bestätigt und Fragen aufgeklärt (natürlich nur meine subjektive Sichtweise, dennoch) – vielen Dank, dass ich das Lied nun umso mehr genießen kann.

  2. “Bist du auch so vergnügt?
    Oh, wie schön heut das Leben zu uns lügt
    Und wie mein Herz vor Liebe fast verglüht

    Schau, wie der Frühling heute blüht!

    Natürlich eigentlich eine Paradoxie, denn man möchte meinen, dass eine Lüge nicht schön ist. Gemeint ist aber unsere Offenheit, die ewige Unterhaltung, die uns umgibt und mit der wir uns vor dem Wichtigen verstecken, als „das Leben“ hinzunehmen, obwohl wir es besser wissen müssten.

    Und das alles, obwohl wir so viel Liebe in uns tragen, dass wir sie nur auf das lenken müssten, was um uns herum ist, zum Beispiel den Frühling.

    So hab ich es verstanden:
    Vers 1:
    Kritik dass Menschen an Schmerzen anderer Lebewesen vergnügt sind.
    Vers 2:
    Ich hab es so verstanden, dass er anzwifelt, dass es heutzutage zuviele lügen gibt sodass fast in manchen Augen das ganze Leben eine lüge wird…
    Vers 3:
    Kritik dass viele heutzutage so kalt sind.
    Vers 4:
    Viele meckern über jede kleine Sache zb das Wetter. Oder dass viele sich nicht mehr mit den eigentlichen Sachen beschäftigen nur noch mit der Arbeit zb.

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