Bild: Thomas Clemens
Bild: Thomas Clemens

In fast allen Bundesländern ist Ferienzeit. Damit die Diskussion um Bildung nicht abreißt, ist dies ein besonders guter Zeitpunkt, sich über das Bildungssystem und ihre Mitarbeiter aufzuregen. Unter den Forschern aller Fachbereiche heißt das Thema, das immer funktioniert: Das Versagen des Bildungssystems. Obwohl niemand bestreiten mag, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, das System, die Institution und seine dort lernenden und lehrenden Menschen weiter zu entwickeln, ist die Kritik meist völlig aus der Luft der stickigen Kammer gegriffen, in der die Forscher ihre Umfragen oder Hirne auswerten. Nichts gegen Empirie oder Wissenschaft, aber als unter Lehrern wandelnder Lehrer muss ich sagen: Es ist an der Zeit. An der Zeit für das Lob des Lehrers.

Die Kritik

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich ist das ein zutiefst subjektiver Text. Das muss man wissen, denn die populärwissenschaftlichen Erkenntnisschleudern aus den Neurowissenschaften suggerieren allzu gerne, all das, was sie zu wissen glauben, stütze sich auf Wissenschaft und Empirie. Ein Beispiel aus einem in der Huffington Post erschienenen Artikels des immer gerne im Gespräch bleibenden Prof. Dr. Gerald Hüther, der es durch wohl formulierte Allgemeinplätze versteht, seine Bücher unter die Leute zu bringen. Er fordert eine „neue Lernkultur“ (Google-Treffer 72.000) und stützt das, was er dafür hält, auf Strohmann-Argumente, die billiger nicht sein können (also auf Argumente, bei denen so getan wird, als würde eine Mehrheit einer bestimmten, im meisten Falle veralteten Auffassung sein). Das hört sich dann so an:

Dass Schüler und Auszubildende noch immer wie leere Fässer betrachtet werden, die mit Wissen gefüllt werden müssen, ist ein Skandal. Und dass Schüler, Auszubildende und sogar Studenten ihren Lernstoff nur aufnehmen, um in der nächsten Prüfung wie Bulimiekranke wieder auszuspeien und anschließend zu vergessen, ist eine Katastrophe.

Herr Hüther weiß, was er schreibt, welche Schlüsselbegriffe fallen müssen, um einen „Skandal“ herbei zu beschwören, nur: Von meinen hundert Kollegen im Kollegium, mit den Hunderten, mit denen ich auf den Sozialen Netzwerken spreche, mit all jenen, die in der pädagogischen und didaktischen Forschungsliteratur zu Wort kommen, gibt es nicht einen einzigen, der Schüler*innen als „leere Fässer“ betrachten würde.

Interessanter Weise bin ich beim Thema des Auswendiglernens sogar selbst eher konservativ, weil ich der tiefen Überzeugung bin, dass wichtige Eigenschaften wie Neugierde und Lust auf Lernen nur dann etwas bringen, wenn sie innerhalb eines Raumes umgesetzt werden, in dem Orientierung herrscht. Ansonsten könnten wir die Kinder und Jugendlichen nämlich im Wald aussetzen und nach 12 Jahren abholen und die wertvolle Kultur abschöpfen, die den kleinen Kasper Hausern mittels ihrer eigenen Fähigkeiten zugeflossen sind. Aber das ist ein Thema für sich.

Ich möchte dem besagten Text nicht noch mehr Aufmerksamkeit widmen, wer mag, kann selbst nachlesen. Es hört sich schön an. Es sind die Schlagworte, die gebraucht werden, um Kopfnicken zu erzeugen. Schön unkonkret und ohne Bezug zu dem, was es gibt. Denn mindestens die Hälfte dessen, was dort „gefordert“ wird, ist schon seit 2004 im Bildungsplan enthalten. Ein neuer ist auf dem Weg. All das, was in den Artikeln der ewig Lamentierenden gefordert wird, ist dort auf der einen oder anderen Seite enthalten. Heißt das, das alles perfekt ist? Natürlich nicht. Gerade die Lehrer ringen in dieser Zeit der Schnelllebigkeit durch die großen Veränderungsprozesse vor allem durch die Digitalisierung mit Strategien, die es ihnen ermöglichen, den Schüler*innen eine möglichst gute Bildung zu ermöglichen. Alle? Das weiß ich nicht. Aber einige.

Lob der Lehrer

Lehrer-Bashing funktioniert immer dann, wenn gerade nichts anderes geht. Und es funktioniert, denn jeder hatte mal einen Lehrer, den er nicht leiden konnte oder der unfair war. Interessanter Weise ergibt sich aber ein anderes Bild, wenn man den Lehrern und den Schüler*innen zuhört.

Ich kenne viele Kollegen, sowohl online als auch in meinem Kollegium, die für das Fach und die Schüler*innen brennen. Die sie nicht aufgeben, auch wenn es schwierig wird. Die in den Ferien ansprechbar sind oder sogar extra Kurse anbieten. Die Tag und Nacht versuchen, die Bildung durch Gespräche und auf Konferenzen weiter zu treiben. Deren wichtigstes Ziel es ist, die Schüler*innen für eine komplexe Welt zu bilden. Die Schüler*innen in Kursen Lust darauf machen, später einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Die zusammen mit Schüler*innen in der Freizeit Theaterstücke, Kunst und Musik erarbeiten. Die Projekte anbieten, in denen aktiv die Demokratie gefördert wird. Die sich um Schüler*innen sorgen und Telefongespräch um Telefongespräch führen. Die respektvoll mit Schüler*innen und Schülern umgeben und diesen auch einfordern. Die soziale Projekte in der ganzen Welt unterstützen. Die auch dann ansprechbar sind, wenn sie eigentlich nicht mehr arbeiten müssen. Die viele Stunden Mehrarbeit leisten, ohne dafür entlohnt zu werden.

Ich denke der Punkt ist angekommen.

Auch wenn ich selbst oft diejenigen kritisiere, die im Referendariat bis zum Limit gestresst sind: Der Grund ist, dass sie gut sein wollen. Dass die Herausforderungen für Referendare immer größer werden. Dass vieles gefordert wird, dass scheinbar paradox ist. Dass bei mittelprächtigen Noten die Chance auf einen Job immer schlechter werden.

All das wischen die Strohmann-Artikel einfach weg. Die bis zur Erschöpfung arbeitenden Lehrer und auch Schüler werden in einen Klumpen gepresst, der dann als defizitärer Kosmos diffamiert wird. So macht man sich das Leben einfach.

Lob des Schülers

Interessanter Weise geht es dabei fast nie um die Schüler und wenn, dann wird dieser im Umkehrschluss in die Opferrolle gezwängt: Der (auch schon erwachsene) Schüler als armer Verlierer des Bildungssystems, der sich nicht gegen die „Fass-Mentalität“ des Lehrers wehren kann. Das verkennt all diejenigen Schüler, die zu unfassbaren Leistungen (nicht nur im Sinne von Noten) fähig sind.

Ich kenne viele Schüler*innen, die für bestimmte Fächer brennen. Die ihre Lehrer wertschätzen und wissen, dass diese für sie da sind, sie unterstützen und versuchen, ihnen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen. Die über den Unterricht hinaus Fragen stellen, sich weiter bilden wollen, sich anstrengen und lesen, sowohl online als auch offline.

Ich kenne viele Schüler*innen, die mehr machen, als sie eigentlich müssten, einfach, weil sie Spaß und Ehrgeiz haben. Kenne neugierige und engagierte Schüler*innen, auch über die Schule hinaus. Ich kenne viele Schüler*innen, die genau die Kompetenzen haben, von denen es heißt, sie seien in der Gesellschaft abhandengekommen. Die meisten Schüler*innen die ich kenne sind freundlich, loyal, sozial und hilfsbereit.

Ich wiederhole mich: Das bedeutet nicht, dass alles gut ist. Aber es ist auch nicht alles schlecht. Ganz im Gegenteil.

Und da heute Sonntag ist, werde ich nun noch lesen, um weiter zu lernen. Denn gute Lehrer sind immer auch wie ihre Schüler*innen: Lerner (ja, einen Allgemeinplatz braucht auch dieser Text). Auch das wissen übrigens die meisten Lehrer, die ich kenne. Aber was weiß schon ich. Ich bin ja kein Wissenschaftler.

2 Kommentare

  1. Ja, ein generelles Bashing ist hart und für viele unverdient. Und doch scheint es mir nützlicher als das Absingen von Lobeshymnen: Die lernenden Lehrkräfte, die moderne Vorstellungen von Lernprozessen, Prüfungen und Didaktik haben, die das Wohl der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund stellen – die gibt es, genau so wie viele, die an sich und ihrem Unterricht arbeiten. Aber die Schule als System und viele Akteurinnen und Akteure fallen zu oft in Rollen zurück, die seit 50 Jahren überholt sind. Teilweise klingt das auch in deinem Blogpost an: Das Auswendiglernen als Orientierung kann bösartig so verstanden werden, als würdest du als Vertreter der gebildeten Erwachsenen wissen, worin sich Jugendliche zu orientieren haben. Und diese Vorstellung prägt die Schule weiterhin: Wissen vorführen, Wissen abfragen, Wissensverarbeitung bewerten. Sie prägt sie, weil es allen das Leben einfacher macht, sich darauf zurückzuziehen: Viele Lernende sind froh, wenn sie gesagt bekommen, was sie zu tun haben, viele Lehrende präsentieren sich gerne als wissend und kontrollierend. Will man hier einen Schritt weiterkommen – und das möchte ich – muss man Missstände benennen und bekämpfen. Ein Huffpost-Artikel ist nicht der richtige Weg dazu, Hüther vielleicht auch nicht. Aber er ist eine Figur, die für Lernen und Lernende einsteht. Ihm dort zu widersprechen, wo er unsaubere Generalisierungen macht oder Strohmann-Argumente vorbringt, ist verdienstvoll. Aber dieser Widerspruch – und das erwähnst du ja durchaus – darf nicht zu einer Absolution eines Systems werden, das im Vergleich mit seinen Leistungen zu viel Energie beansprucht. Wenn man Schülerinnen und Schülern zuhört, dann meinen sie mit »lernen« oft das, was falsch und abschätzig »Bulimie-Lernen« genannt wird: Eine Prüfungsvorbereitung. Daran tragen viele Lehrkräfte schuld.

    • Philippe, was soll ich sagen. Ich stimme dir zu, darüber müssen wir nicht reden. Ich wollte in der Tat schon lange mal ‘Absingen’, weil nach meiner Erfahrung das Lob oft zu kurz kommt. Der HuffPost-Artikel war nur der Impuls.
      Über die Orientierungspunkte oder den Referenzrahmen könnte ich meine Vorstellung noch deutlicher machen, aber das vielleicht an anderer Stelle. Wichtig ist mir (quasi als roter Faden), dass man bestimmte dogmatische Vorstellung durchbricht oder zumindest hinterfragt. Das gilt natürlich für vorgefertigte Wissensbestände, aber eben auch für eine Pauschalverurteilung alles lernbaren, abfragbaren Wissens.

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