Wir stehen in London. Man merkt, dass die Münder der Schülerinnen und Schüler offen stehen. So viele unterschiedliche Menschen, so viele Eindrücke, schwer in einem Atemzug einzufangen. Ein Überblick muss her und wird dem kurzfristigen Touristen in Form des großen Londoner Auges präsentiert. Ein Riesenrad, das seinen Namen verdient, zwar langsam und beschwerlich, doch eben deshalb erhebend über einen Teil des Ganzen. Langsam geht es nach oben. Es ist einer der Höhepunkte einer gemeinsamen Reise mit meiner neunten Klasse. “Meine” nenne ich sie von Beginn an und es wird auch meine bleiben. Ob ich zu diesem Zeitpunkt “ihrer” bin, weiß ich nicht. Im weiteren Verlauf der arbeitsreichen Zeit bis zu mittleren Reife werde ich sie motivieren, nerven, bedrängen, werde auf sie einreden, fluchend das Zimmer verlassen, sie loben und sanktionieren.

Aber nicht jetzt.

Jetzt stehen wir an der höchsten Stelle des London Eye und schauen in die Ferne und die Nähe. Wir machen das, was man so macht: Selfies und Gedanken. Man fotografiert sich gegenseitig vor den symbolischen Gebäuden der Stadt, der Themse und dem wolkenbehangenen Himmel.

Dann sagt ein Schüler einen Satz, der hängenbleibt über Jahre, obwohl er so einfach ist:

“Niklas hätte es hier oben nicht gefallen.”

Mehr nicht.

Nun muss man dazu sagen, dass dieser Niklas kein Klassenkamerad war, sondern eine Figur eines Buches, mit dem ich die Schülerinnen und Schüler zur Verzweiflung getrieben hatte. Nicht, weil es ein schlechtes Buch ist, sondern eben, weil es das war, was man als “anspruchsvoll” definiert, zumindest und zuvorderst dann, wenn es um Schülerinnen und Schüler geht, die in ihrer gesamten Karriere nicht mehr als ein weiteres Buch lesen. In dem Buch “Die Nackten” von Iva Procházková geht es darum, wie wenig Schutz Jugendliche in bestimmten Zeiten ihrer Pubertät haben. Wie sie eben völlig nackt sind, was die Einflüsse und Drucksituationen ihrer Umgebung betrifft. Neben der allzu verständlichen Tatsache, dass die Eltern zunächst schlucken mussten, als sie diesen Buchtitel lasen (was sie mir später unter Lachen eröffneten), mussten die Schülerinnen und Schüler schon sehr ächzen. Manche mochten die Figuren, manche lehnten das Ganze ab. Warum?

“Was bringt uns das?”

Eben jenen Satz hört man zur Zeit immer wieder. Wenn es um Bildung geht, sind sich alle einige, dass irgendwie mehr gemacht werden muss; gerade jetzt, wo viele die Geschichte vergessen und ihre Moral opfern. Irgendwie beschleicht jeden das Gefühl: Da muss doch mehr Bildung her. Aber das, was wir darunter verstehen, ist sehr unterschiedlich. Man kann sehr zugespitzt und zusammengefasst sagen: Für die einen ist Bildung die Befähigung zu einer Tätigkeit. Alles, was nicht eine bestimmte Funktion hat, kann weg.

 

Für die anderen, vielleicht eher konservativen Menschen, ist Bildung mehr als das. Sie ist die Befähigung zu eigenständigem Leben, Haltung und Kennenlernen von Kultur und Literatur (hier ein außerordentlich guter Artikel zur Trennung zwischen diesen beiden).

Der wichtigste Auszug aus obigem Text:

“Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich . Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können . Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.”

“Auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein”. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Denn es bedeutet ja auch ignorant und nur auf eine Weise in der Welt sein zu können. Die schwarz-weiße Eindimensionalität der Alternativlosigkeit zu leben. “Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.” Was vormals noch die Engstirnigkeit von George W. Bush zeigte, ist in der heutigen Welt anerkanntes Axiom. Aufeinander zugehen ist ein Zeichen von Schwäche. Die Zwischentöne werden wegrationalisiert. Menschen sind im freien Fall. Und der führt in eine unbestimmte Wut.

Was auffangen kann, sind Sicherheitsnetze. Und die bestehen aus dem Verstehen der anderen. Aus den Blickwinkeln, die nicht die eigenen sind, aber die man im besten Falle aus der eigenen Neugierde heraus fassen möchte. Warum denkt ein anderer anders als ich? Was macht diese Andersartigkeit aus? Waren Menschen zu anderen Zeiten immer anders? Und was bedeutet das für mich.

Während wir uns langsam wieder nach unten an die Themse senken und nicht mehr über den Gebäuden ragen, sondern als kleine Menschen langsam in der unbedeutenden Masse der vielen lauten Menschen verschwinden, denke ich lange an diesen unscheinbaren Satz. Und Jahre später schreibe ich darüber.

Vielleicht wird man kein besserer Mensch. Und mit Sicherheit nützt Allgemeinbildung nicht, um ein besserer Ingenieur zu werden.

Vielleicht ist es aber ein Zeichen von Bildung, über einer der spannendsten Städte der Welt zu schweben und sich Gedanken zu machen, was jemand anderes darüber denken würde. Jemand, den es eigentlich gar nicht gibt.

Anmerkung: Der Autor und prominente Medienexperte Philippe Wampfler schreibt in einem Artikel, dass die Interpretation, die ich hier zu Bierei liefere, eine falsche ist. Auf Twitter beschreibt er seinen Artikel auch explizit eine Antwort auf diesen Artikel.

Wer sich davon abgrenzen will, dass nur ökonomische Ansprüche die Schule bestimmen, sollte deshalb nicht in die Ausflucht verfallen, Geisteswissenschaften drehten halt zum Glück im Leeren, sondern klar benennen, was sie leisten.

Sabine Anselm hat in einem Beitrag zur Werteerziehung durch Literaturunterricht ein Beispiel dafür geliefert, dass das höchst differenzierte Überlegungen erfordert. Diese sind aber Lehrpersonen am Gymnasium zuzumuten.

Auch die weiteren Ausführungen des Artikels sind sehr zu empfehlen, da sie, wie oft bei Wampfler einen differenzierten Blickwinkel auf den Sachverhalt geben, den ich als Hobbyblogger nicht geben kann. Viel Spaß beim Lesen!

5 Kommentare

  1. Der Text von Peter Bieri hat mich damals schon sehr, sehr angesprochen. Das war einer der wenigen zur Frage, was Bildung bedeutet, in dem ich mich durch und durch wiedergefunden habe. Deine Deutung und Einbettung finde ich überaus gelungen, danke für Deinen Text.

    Bezüglich der Nützlichkeit von Bildung hab ich zwei Herzen in der Brust: Einerseits kann ich nur schwer Dinge lernen, deren Nutzen ich nicht nachvollziehen kann, andererseits reicht mir oft „die Welt besser verstehen“ als Nutzen aus – was vielen anderen zu vage ist. Weiteres Nachdenken ist angesagt.

  2. […] Neben diesen rhetorischen Finessen hat die Kompetenzorientierung aber noch eine ganz andere Problematik. Sie führt teilweise in so starke Partikularisierung, dass nichts Ganzes mehr entsteht. Beispiel: Sprachen. Die in den Schulbüchern abgebildete Kompetenzorientierung führt dazu, dass jeder noch so kleine Text „nutzbar“ gemacht werden muss. Das „unnütze“ Wissen, jenes also, das ganz zufällig zum Gedanken anregt, fehlt. Das „Wissen“, das vielleicht Jahre brach liegt, aber dann aufgenommen werden kann, wenn man es gar nicht mehr vermutet.  […]

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