Über aussterbende Fähigkeiten, Fragen und die eigenen Ansichten. Ein Essay

 

 

 

 

In Zeiten des uneingeschränkten Müßiggangs, selbst wenn diese von kurzer Dauer sind, können Fragen, die einen bewegen, langsam reifen, um zu echten Überlegungen zu werden. Dabei ist sowohl Müßiggang als auch Langsamkeit kein Zeichen der Zeit mehr. Im Gegenteil: nichts zu tun als sich eigene Gedanken zu machen, ist ein Zeichen verpönter Unproduktivität. Der Nichtstuende ist wie ein Gottloser in mitten von Puritanern.
Schaffen es jedoch Fragen an die Oberfläche, so können sie es wert sein, geteilt zu werden. Manchmal führen Gespräche dazu, dass dies passiert. Welch glückliche Zufälle, da auch die echte Gesprächskultur immer mehr abzunehmen scheint. Aber dazu später.
Als ich zu feierlichem Anlass auf dem Balkon stehe, wird mir ein Kompliment zuteil, dass ich fast nicht glauben kann. Eine von mir sehr geschätzte Person erklärt, er würde nicht nur Texte aus dem Blog lesen, sondern sie würden sogar zu neuen Ansichten führen. Dies ist aus zwei Gründen das größte Kompliment, das eben diese Person mir machen kann. Erstens ist dieser jemand sich nicht zu schade, die volle Härte einer unbequemen Wahrheit in den Mund zu nehmen und diese auch zu teilen. Hier wird keiner in hohle Phrasen gebettet. Zweitens sind neue Ansichten die Nummer drei der aussterbenden Dinge unserer Zeit. Müßiggang, Langsamkeit, neue Ansichten und die Neugierde.
Dabei ist letztere eigentlich Voraussetzung für alles Folgende.
Das Kompliment führte mich zu Gedanken über das, was ich Schreibe und das, was ich und andere lesen. Immer wieder kann man in den unendlichen weiten des Netzes die selbstreferentielle Frage darüber lesen, warum die Menschen Blogs lesen. Das kleine große Universum der wenigen Schreibenden (sie machen etwa ein Prozent aus, während weitere 10 kommentieren und der Rest schweigt, liest und sich echauffiert) ist sich meist einig und verweilt in Lobhudeleien oder Ablehnung. Und das ist kein Wunder, denn:
Das was Seemann 2011 als „Filtersouveränität“ festlegte, ist eigentlich ihr Gegenteil. “Die Freiheit des Anderen, zu lesen oder nicht zu lesen, was er will, ist die Freiheit des Senders, zu sein, wie er will.”
Eine Definition, die zu schön um wahr zu sein ist, hat sie doch gleich zweifach die schöne, nicht zu hinterfragende „Freiheit“ in sich – und die „Anderen“. Sie gibt mir und anderen Freiheit. Man hört Rosa Luxemburg förmlich im Subtext. Und doch verbirgt sich hinter dieser Freiheit ein Problem, das wir in jeder politischen, gesellschaftlichen und sozialen „Diskussion“ der letzten Zeit sehen. Denn was ist, wenn der Sender ein zwar intelligenter, aber Hass evozierender Demagoge ist und die so schön freien Anderen lesen ihn? Nur ihn. So schön frei gehen wir zugrunde. Aber das hier soll es gar nicht um Demagogen gehen.
Selbst in unserem kleinen Vorgartenblog geschieht dasselbe, was wir woanders so strickt ablehnen. Die leiseste Kritik an der eigenen Vorstellung wird im besten Fall ignoriert; im schlimmsten Fall folgt die absolute Verurteilung. Aus Konservativen werden Rechte, aus Buchlesern Rückwärtsgewandte Anhänger des „Kreidezeitalters“ (wie Pädagogen ohne Tablets geschimpft werden) und aus „Medienpädagogen“ werden realitätsferne Wichtigtuer, die jede Gefahr der digitalen Medien ignorieren. Jeder kann den anderen verunglimpfen, ohne zuhören zu müssen. Und warum das alles?
Eben weil wir so souverän geworden sind, dass wir nur noch das lesen, was wir sowieso schon denken von Menschen, die wir sowieso schon gut finden. Ist es einmal nicht der Fall bleibt noch das Ignorieren.
Am besten lässt sich dies an Twitter ablesen. Das, was am meisten weitergereicht wird, ist der ausgetretene Weg. Verstehen wir uns nicht falsch: Der ausgetretene Weg kann auch ein kleiner, dünner sein. Aber das Ziel ist immer klar, unabweisbar, unkritisierbar.
Es birgt eine gewisse Ironie, dass meist eben jene, die das große Wort der „Aufklärung“ für die Digitalisierung immer nur die Hälfte meinen. Und andersrum. Das, was ich in einem Text „digitalen Dogmatismus und analoge Demenz“ genannt habe, ist eine schöne halbe Aufklärung, die alles das, was passt in einen großen Zusammenhang des (meist fehlenden) Fortschritts rührt und alles, was nicht passt mit der scharfen Kritik derjenigen, die es besser wissen, ablehnt, ignoriert und in dramatischen Worten verurteilt. Manchmal sagt ein Tweet und die Reaktion der Nutzer schon alles:


Dabei ist es übrigens heutzutage egal, ob es unwiderlegbare Forschungsergebnisse gibt oder nicht, denn auch die lassen sich wunderbar verfilterblasieren. Entweder ich nehme nur das, was ich brauche oder ich drehe das, was mir nicht gefällt, herum. Das kann man wunderbar machen. „Lasst uns nicht über die 90% reden, die Probleme haben. Die anderen 10% beweisen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Die wunderschöne Welt der „Freiheit“ und der Souveränität das zu unterstützen, das die eigene Meinung am meisten wiedergibt.
Die halbe Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, die sich daraus ergibt, auch denen ein Ohr zu schenken, die einem nicht nach dem Mund plappern. Unsere Filterunsouveränität.
In diversen Texten wurde mir vorgeworfen, mich eines Strohmann-Arguments zu bedienen. Also die gegenüberliegende Seite meiner Kritik zu erfinden. Dies ist auch dieses Mal so. Ich meine niemanden. Ich meine alle.
Es geht nicht darum, dass Menschen, die sich für eine bestimmte Seite einsetzen und diese verteidigen, böse Opportunisten sind. Nicht im Geringsten. Nein, vielmehr ist dies ein Plädoyer für eine Tätigkeit, die ich als fünftes Element vorm Aussterben bedroht sehe: Das Zuhören.
Eine aufgeklärte Filtersouveränität würde bedeuten, auch dort hinzugehen, wo es andere Meinungen gibt und diese anzuerkennen. Ob sich der Mensch in egal welcher Meinung ändert, das sei dahingestellt. Oder ob er für sich neue Ansichten sieht, die er zuvor nicht hatte.
Und so bildeten sich zwei Fragen in den kurzen Zeiten des Müßiggangs und der Reflexion, die eben jener, von mir hochgeschätzte Mensch an die Oberfläche brachte.
Warum sollte man einen Blog schreiben?
Und warum sollten die Menschen diesen Blog lesen?
Ich hoffe, dass ich sie nicht mehr zu beantworten brauche. Und ich bedanke mich bei allen, die diesen Blog lesen, selbst dann, wenn dort Dinge stehen, die der eigenen Meinung widersprechen.

tl;dr

Eine Zusammenfassung für einen Essay? Ich bitte Sie. Da müssen Sie durch.

1 Kommentar

  1. Warum sollte man einen Blog schreiben? Weil es ein gutes Mittel der eigenen Reflexion sein kann. Und weil diese Reflexion die eigenen Gedankengänge voranbringt.

    Warum sollten die Menschen diesen Blog lesen? DIE Menschen müssen das nicht lesen, einige wenige reicht. Es muss auch kein direktes Feedback geben, nur den Eindruck, dass da tatsächlich ab und an jemand ist. Denn sonst könnte es ja auch ein Schreibtischschubladen-Tagebuch sein. Darin wird aber in der Regel anders geschrieben. Die Öffentlichkeit des Blogs fördert eine Schreibweise, die auf eine bestimmte Form der Vermittlung ausgerichtet ist. Leidlich nachvollziehbar, in der Öffentlichkeit vertretbar, mit Themen, die kommuniziert werden sollen, da sie von der Schreibenden oder dem Schreibenden als mitteilenswert eingeschätzt werden und letztlich mit einer Konklusion. Ich denke, diese Ausrichtung auf ein jeweils abgeschlossenes Einzelprodukt macht den Mehrwert aus.

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