Jugendliche iPad-Nutzer nach einer langen Session (Archiv)

Wie die allgegenwärtige digitale Fotografie die Wahrnehmung diktiert

Menschenmassen schlängeln und rücken sich über das warme Pflaster irgendeiner südeuropäischen Stadt. Sie verharren in Pulks, die sich scheinbar willkürlich bilden und noch im Moment des kollektiven Erstarrens weiterdrängen. Die Luft ist von der Sonne aufgeheizt, so dass einige kleine Menschenansammlungen vor den Läden mit Erfrischungsgetränken stehen, um ein überteuertes Zuckergetränk amerikanischer Provenienz in sich aufzusaugen. Hier, an diesen schattigen Plätzchen können die heißgelaufenen intelligenten Telefon- und Fotogeräte zur Ruhe kommen. Aber das auch nur für wenige Sekunden. Dann wartet ein erneuerter Pulk, der das krankhafte Zucken der Hand, deren Finger schon griffbereit am filtervertrieften digitalen Endgerät haftet, zu neuen Aufnahmen befeuert.

Die Gesichter sind zu kalt lächelnden Fratzen erstarrt, deren Mundwinkel nun mehr wie in Trance sich nach oben ziehen gen selbst erhaltenden Fluchtpunkt. Der Selbst-Stock wird zum Selbstzweck eines Urlaubs, dessen anvisierte Punkte nun mehr zu Beweisen des Dagewesenen fungieren. Hinter dem Muss der kollektiven Tippgeberschaft steht das Muss des individuellen Festhaltens jener normativ gesetzten Symbole, die festzuhalten sind, um erklären zu können, dass man sie festhielt.

Danach werden sie verschwinden, denn wer würde das, was allseits bekannt ist, mit jenen teilen wollen, denen es bekannt ist?

Aber natürlich bin ich einer von ihnen. Das Handy griffbereit in der Tasche, ausblickend, ob nicht ein Motiv vor die Linse meines Statussymbols huscht. Aber ich merke, wie mich die zukünftigen Fragen danach, wo wir waren, langweilen. Ich sehe Menschen, denen ein unbestimmter Trieb in die Augen gezwungen steht, der sie haltlos nach allen Seiten umschauen lässt, wo etwas wartet, das zu verpassen den gesellschaftlichen Tod durch Erstaunen nach sich ziehen würde:

„Wie, da wart ihr nicht?“

„Das muss man doch gesehen haben.“

„Und dann hattet ihr keine Zeit dafür?“

Und schließlich das desinteressierte Interesse: „Hast du ein Foto gemacht?“, das impliziert, das ein Ja das kurze Aufwallen prätendierten Interesses in das nächste Abprüfen von Ort und Zeit gleiten lässt.

Aber das ist noch nicht alles. Denn ist man da, wo man sein soll, ist dort auch zu viel. Zu viel von dem, das anerkannt zu dem gehört, das man wahrnehmen muss. Aber wenn ich mir Zeit zum wahrnehmen nehme, merke ich, dass keiner wahrzunehmen scheint.

Es ist kein böses Verdikt. Jeder meint es gut. Will die Teilhabe. Aber welche Teilhabe ist das?

Ich schweife ab, denke an jenen Film, in dem Robin Williams als Therapeut jenen „Good Will Hunting“ belehrt, dessen intellektuell zweifelsohne unvergleichbaren Höchstleistungen nicht darüber hinwegtäuschen können, dass er nie an den Orten war, die er zu beschreiben so perfekt in der Lage ist.

Ist es das also?

Ist es unser Wille, die maßlos überteuerten Milchkaffees an den Orten zu trinken, von denen alten Dichter eben aus dem Grund sagten, sie seien die schönsten der Welt, weil keine Massen dort saßen und ihre Milchkaffees tranken?

Ist es das Beiwohnen einer nicht fassbaren historischen und kulturellen Leistung, die man mit eben jenen Mitteln gewahr werden will, denen man in modernen Zeiten habhaft ist?

Welche Bilder werden gesehen, wenn man zuhause ist?

Sind es meist nicht jene, die mehr über den sagen, der fotografierte als über das Fotografierte?

Das Lächeln der Anwesenden über die schelmische Gewagtheit Leute zu fotografieren, deren Lach-Maskerade bis hinein ins Menschlich-Monströse wandert? Ist es nicht die Anekdote, deren Ursprung ein misslungener Versuch ist, das festzuhalten, was nicht festzuhalten ist?

Menschliche Erhabenheit. Geist der Zeit. Schaffenswerke, die sich nicht in in Plastikgehäuse zwingen lassen.

Jeder weiß, welche Bilder er nie wieder anschauen wird, und zwar im Moment des Abdrucks. Es sind jene, die schon so oft gemacht wurden, dass mit all den Bildern, die täglich entstehen der Boden der Städte gepflastert werden könnte, in denen sie entstehen.

Werden sie nicht sofort geteilt und besteht dieses Wissen, bleibt die Frage: Warum denn sonst? Warum das Festhalten, mit mir Festhalten, als Selbstbild eines Bildes, das ich doch überall sehen kann, wenn ich die endlosen Blogs und Bilder und Blogbilder und Bildblogs anschaue, oder – ganz analog – zu jenen Serien greife, die die ameisenemsigen Menschen zur Morgenstunde noch nicht auffangen müssen.

Es ist ein Paradox: Während ich nicht wahrnehmen kann, was ich wahrnehmen könnte, würde ich mir die Zeit zur Wahrnehmung nehmen, konzentriere ich mich auf das Festhalten dessen, was ich wahrnehmen würde. Es ist ein verzweifelter Ruf, der durch meine Foto-Wolken hallt: ICH WAR HIER!

Ich bin Teil dessen gewesen, von dem Menschen sagen, dass man – DAS GROSSE MAN – Teil dessen gewesen sein muss. Das große Diktat der oberflächlichen Kulturbeschauung fliegt wie ein Geist durch meine digitalen Gehäuse. Es verkommt zu einem Friedhof der Selbstwahrnehmung. In vielen Jahren werden wir die Dinge herauspicken, die uns erinnern. Ich bin gespannt, welche es sein werden.

Aber das ist nur eine Beobachtung. Wir gehen über den warmen Pflaster. Menschenmassen schlängeln und rücken sich über die Gehwege irgendeiner südeuropäischen Stadt. Sie verharren in Pulks, die sich scheinbar willkürlich bilden und noch im Moment des kollektiven Erstarrens weiterdrängen.

Wir trennen uns, gehen durch eine Seitenstraße. Welch Überraschung. Freunde aus der Heimat. Wir haben uns viel zu erzählen. Ein wunderbares Ereignis. Fotografieren tun wir nicht mehr. Aber zu Hause werden wir einiges zu erzählen haben.

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