Kontrolle abzugeben bedeutet nicht selten, überrascht zu werden. Gerade in der Schule.

Es ist stickig. Draußen glühen die ersten Vorläufer des Frühlings und man würde jeden verstehen, der alles stehen und liegen lässt, um ins Freie zu gehen. Stattdessen sitzen die 10 SchülerInnen mit konzentrierter Miene im Kreis. Morgen schreiben sie eine wichtige Deutscharbeit, aber darum geht es jetzt nicht. Sie sind freiwillig da, um ein Projekt über die DDR zu gestalten. Völlig frei in einem gemeinsamen Ideenaustausch, der die besonderen Begabungen der Teilnehmenden einbezieht.

Der über Europa hinaus bekannte Pädagoge Jasper Juul sagt in einem Vortrag, den er in der Universität hält, den merkwürdigen Satz: „Die Jugendlichen sind nicht in erster Linie Schüler, sie sind Menschen.“ Was seltsam anmutet, ist gedacht als erste These, um die Wichtigkeit von Beziehungsarbeit zu erklären. Ein Verhältnis, das auf gegenseitigem Respekt und nicht auf strikter Hierarchie beruht sei es, dass die SchülerInnen dazu ermutige, sich auf ihre Stärken zu besinnen.

Es ist Freitag. Eine lange Woche für die SchülerInnen und die Lehrer ist fast zu Ende. Fast. Etwa 15 SchülerInnen stehen mit leuchtenden Augen im Kreis. Sie unterhalten sich angeregt, obwohl die Spanne der Teilnehmenden von 7. bis 10. Klasse reicht. Nein, bis zur Kursstufe. Denn ein Teilnehmer kommt jeden Freitag aus seiner weiterführenden Schule zurück in seine alte Realschule, im teilnehmen zu können. Die Lehrer stellen eine „Aufgabe“. Die SchülerInnen „sollen“ über literarische Figuren nachdenken, ihre Charaktere weiterführen. Es folgt eine Dreiviertelstunde konzentriertes Arbeiten. In Gruppen, allein. Jeder, wie er denkt. Es gibt keine Sanktion, keine Note. Am Ende steht nur die Gewissheit, dass das, was getan wird, sinnvoll ist für unser gemeinsames Theaterstück, bei dem jeder mitmacht.

Auch hier dürfen die SchülerInnen ausnahmsweise das sein, was sie sonst nicht dürfen: Menschen sein. Unsinn machen, wie es sich gehört für pubertierende Jungen und Mädchen, die voll sind von genialen Ideen, die ausprobiert werden können. Hier schaut keiner auf die Uhr. Es wird nicht gestöhnt. Oder vielleicht doch: Wenn es ausfällt sind die Kinder schon traurig.

Sowohl die Theater-AG als auch das Geschichtsprojekt sind Beispiele dafür, was passiert, wenn junge Menschen dazu ermutigt werden, ihre Stärken zu nutzen. Und die kennen sie – im Gegensatz zu dem, was oft durch die Flure hallt – sehr genau. Die Arbeit wird delegiert, so dass jeder etwas tun kann, was die Gruppe als Ganzes weiterbringt. Nicht vom Lehrer. Von den Jugendlichen selbst.

Das Hauptargument, das nach ein paar solchen, sehr bestimmten Projekten folgt, ist oftmals dasselbe: „Das ist ja alles schön und gut, aber wie stellst du dir das in einer ganzen Klasse vor. Zumal bei dem, was alles gemacht werden muss?“ Gute Frage (wenn sie als solche gemeint wäre).

Denn es geht in erster Linie nicht darum, wie es der Lehrer oder die Lehrerin zu leisten vermag, schwierige Strukturen auf die Klasse zu übertragen. Es geht darum, ob die Lehrenden sich zutrauen, Teile der Kontrolle aus der Hand zu geben. Denn nur, wenn man dies tatsächlich tut, können sich SchülerInnen auch ernst genommen fühlen. Alles andere ist ein Spiel mit dem Schein, das erstens durchschaut werden würde und zweitens – als negative Folge – dafür sorgen könnte, dass das Gegenteil erreicht wird.

Auch das (in Zeiten der Kompetenzorientierung) immer noch vorhandene Argument, man müsse den sogenannten „Stoff“ durchbringen, steht bei einer ernsthaften Beschäftigung mit alternativen Zugangsformen auf tönernen Füßen. Denn Kontrolle und Verantwortung abzugeben heißt oftmals auch, dass sich die SchülerInnen nicht nur neue Zugangsmöglichkeiten erarbeiten, sondern auch, dass sie den Sinn von Inhalten für sich selber finden. Und was sinnvoll ist, wird in einer völlig anderen Art gelernt als etwas, dass zwangsweise gelernt werden muss.

All dies gilt insbesondere auch für jegliche Form der Öffnung durch digitale Medien. Deren Ablehnung ist somit oftmals gar keine Ablehnung der Technik, sondern die Angst vorm Kontrollverlust. Aber das ist ein anderes Thema.

Es ist immer noch sehr stickig. Ich habe eine Idee und bringe sie vor. Eine Schülerin überlegt und sagt, dass sie es anders besser findet. Im Sinne des Films, den wir drehen wollen. Die anderen Schüler stimmen zu. Wir werden es so machen, wie sie meint.

Irgendwie bin ich stolz.

Man sollte viel öfters einfach mal machen.

Das Video von Jasper Juul:

Meine Mitschrift:
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1 Kommentar

  1. “Es braucht professionelle Supervision, kein Gequatsche!”
    Das ist ein unheimlich wichtiger Satz Ihrer Mitschrift.
    An meiner alten Schule haben sowohl Kollegium als auch die Schulleitung getrennte Supervisionen, selbstverständlich von zwei jeweils eigenen SupervisorInnen geleitet. Kollegium seit 10 Jahren, Schulleitung (mit drei anderen Schulleitungen) seit 6 Jahren.

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