Es gibt keine Zeit, in der die Menschen nicht über Bildung und Schule sprechen. Zu Recht. Aktuelle Themen wie G8, Gesamtschule oder Binnendifferenzierung und nicht zuletzt die Integration von Migranten bestimmen die Debatte. Dabei sollte es nicht um die Schulform gehen, sondern um einen übergreifenden Fehler im System.

Als ich vor ein paar Tagen eine Online-Umfrage mit meiner Klasse durchführte, die ich aus Gründen der Mitbestimmung und der Einbeziehung neuer Medien ab und zu durchführe, staunte ich nicht schlecht, als ich das Ergebnis der Doodle-Umfrage, einem kleinen Programm für Online-Abstimmungen, zu Gesicht bekam: Es war ein einhelliges Nein, das sich dort abzeichnete. Ich schüttelte mit dem Kopf, aber im Grunde verstand ich auch, was passiert war.

Als Referendar hat man mitunter viel zu tun. Man muss sich in das Schulleben eingewöhnen, im Seminar die neuesten Theorien besprechen und am besten am nächsten Tag anwenden, sich mit Eltern und Kollegen auseinandersetzen und – wie es so schön heißt – seine eigene Lehrerpersönlichkeit ausbilden. Ist das Referendariat fast um, werden die Theorien in mündlichen Prüfungen abgeprüft. So weit, so gut.

Schaut man sich die didaktischen und pädagogischen Theorien der letzten Jahren an, merkt man schnell, dass sich der Fokus verschoben hat: Nicht der Stoff, sondern die Schüler sollen in den Mittelpunkt des Unterrichts rücken. Es geht um Schlagwörter wie „Schülerorientierung“, „Handlungskompetenz“ oder „Identitätsfindung“. Sowohl didaktisch als auch pädagogisch zielt dieser theoretische Unterbau also darauf ab, dass sie Schülerinnern, wenn sie die Schule verlassen, sich in einer immer komplexeren Gesellschaft zurechtfinden – ein Anspruch, dessen Plausibilität keiner widersprechen würde. Wo soll den nun das Problem, der Fehler liegen?

Natürlich umgeben die Schule zahlreiche Kontroversen, deren auch nur kurze Umschreibung Bücher füllen würde. Doch wie es mir scheint, wird dabei der Kern des Problems nicht erkannt.

In der Doodle-Umfrage ging es um eine einfache Frage: haben die Schüler Interesse daran, gegenseitig ihre Lesejournale anzuschauen. Lesejournale sind seit der Jahrtausendwende gang und gäbe im Literaturunterricht. Die Schülerinnen erstellen zeitgleich zum Lesen des Buches einen Lesejournal, in dem sie verschiedene Aufgaben auswählen, die sie dann individuell bearbeiten können. Wenn möglich, sind diese Aufgaben motivierend. So erstellten fast alle Schülerinnen meiner Klasse ein Facebook-Profil einer Figur aus dem Buch. Nicht nur das Profil an sich, sondern dessen Begründung soll die Schülerinnen so zu einem tieferen Verständnis der Figuren führen.

Die Lesejournale waren so, dass man als Lehrer von „sehr gelungenen Arbeiten“ sprechen würde. Mehr noch: es waren Cover dabei, die, wie ich mit Fug und Recht behaupten kann, das Buch noch besser verkauft hätten, als es so schon der Fall war (Iva Procházková Die Nackten). Natürlich gab es Unterschiede, aber insgesamt hätte man durchaus eine Ausstellung initiieren können. Nachdem die Noten verteilt wurden, glühten die Augen die Schüler hell auf. Sie unterhielten sich über ihre Note und darüber, wie denn die anderen abgeschnitten hätten. Stop!

Sie redeten nicht mehr über ihre Lesejournale, nicht über den Text, den ich ihnen schrieb, zeigten sich nicht die toll gestalteten Coverbilder. „Was soll’s“, mag da der eine oder andere denken, „Noten sind halt wichtig für die Kinder.“

Ja, das sind sie. Sie sind so wichtig, dass die Jugendlichen bei besagter Umfrage keinerlei Interesse mehr daran hatten, sie die Produkte ihrer Klassenkameraden überhaupt anzuschauen. Journal fertig, Note erhalten. Das war’s.

Es erscheint unbegreiflich, wie Theorien über Schülermotivation außer Acht lassen, dass eine interne Motivation, wie der eigene Wunsch, etwas zu tun, genannt wird, so schwer zu initiieren ist während die älteren Pädagogiktheorien über Sinn und Unsinn des operanten Konditionierens philosophieren. Operantes Konditionieren meint einfach ausgedrückt das Antrainieren eines erwünschten Verhaltens. Wer hier nicht ins Stutzen gerät, erlebte wohl eine ähnlich Schulzeit.

Liest man die einschlägige Literatur über den Sinn der Leitungskontrolle, wie Notengebung euphemistisch genannt wird, muss man sich wundern. Es werde hier nicht nur die Leistung kontrolliert, nein, die guten Noten sorgten auch für eine positive Lernförderung. Und die Schüler, die schlechte Noten bekommen, wissen wenigstens, wo sie sind. Ach, und ansonsten sind sie vielleicht nur misserfolgsorientierte Individuen, deren Ansichten von der Schule nicht zu verändern seien.

Dabei haben die Pädagogiktheoretiker in einer Sache mehr Recht als sie vielleicht denken. Noten sind in der Tat ein motivationaler Anreiz. Mehr noch: Noten scheinen mehr und mehr der einzige Anreiz zu sein, um Schüler zum Lernen zu bewegen.

„Ja und?“, fragt man sich vielleicht. So ist das halt. Und das wird sich auch nicht ändern. Wo liegt das Problem?

Das Hauptproblem dieser konditionierten Praxis ist, dass man den Schülerinnen implizit eine Überzeugung antrainiert, die auch im späteren Leben beibehalten wird. Positiv formuliert wäre diese: Strenge dich an und du wirst dafür belohnt. In diesem Kontext wird die Notengebung ja auch zumeist gesehen. Was aber vergessen wird, ist eine weitere – entscheidende – Nachricht die von Kindesbeinen an nach und nach internalisiert wird: Wirst du nicht belohnt, lohnt es sich auch nicht, dass du dich anstrengst. Um es drastischer zu formulieren: Schule in dieser Form trainiert den Kindern nach und nach das Wichtigste ab, was man nur haben kann: Das eigene Interesse an den Dingen.

Gelernt wird eine Verbindung zwischen Tun und Haben. Tue ich etwas, werde ich belohnt. Man lernt eine nicht mehr enden wollende Kausalkette. Ich gehe in den Kindergarten, um gut in der Schule zu sein. Ich mache gute Noten, um studieren zu können. Ich studiere, um einen gut bezahlten Job zu bekommen. Ich habe einen guten Job, um meinen Kindern etwas zu bieten. Und so geht es weiter.

Es geht nicht darum, dass diese Überlegungen an sich schädlich wären. Natürlich muss man sich anstrengen und natürlich ist es schön, wenn man genug Geld bekommt, um seiner Familie ein Haus kaufen zu können.

Das Problem ist vielmehr, dass ein Tun ohne ein Haben so fast keine Rolle mehr spielt. Mehr noch: Der Kreislauf dreht sich weiter. Hat jemand ein teures Auto, heißt das, dass er erfolgreich ist. Er hat, also hat er auch getan.

Verwundert es dann, dass so viele erwachsene Menschen darüber klagen, dass sie sich bis in den Burnout aufreiben, um genauso „erfolgreich“ zu sein wie ihre Kollegen? Verwundert es da, dass für viele Menschen der Spaß da erst beginnt, wo sie aufhören können zu arbeiten. Und noch so viel Zeit gibt die verlorene Zeit nicht zurück. Ist dies nun alles auf die Schule zurückzuführen? Dies wäre sicherlich zu viel des Guten. Aber man muss doch festhalten, dass ein System, das stets bemüht ist, die Kinder durch Nummern zu klassifizieren und auszuwählen, sich nicht wundern muss, dass die Kinder wenn sie zu Jugendlichen werden keine Lust mehr haben, etwas zu tun, wenn sie nichts dafür bekommen. Sie können nicht anders. Wir haben es ihnen über Jahre so antrainiert.

Und es verwundert auch nicht, dass die Kinder sich lieber an den Computer setzen als in den Wald zu gehen. Vor der Konsole bekommen sie nämlich genau das, was ihnen die Schule nicht immer bieten kann. Triff deinen Feind und du erhältst deine Punkte. Gewinne ein Spiel und eine Stimme lobt dich als Helden der Geschichte.

Interesse zu entwickeln, ist harte Arbeit, da man meist erst hinterher weiß, welche Möglichkeiten einem offenbart werden. Das sieht man besonders deutlich bei Theaterstücken oder Bandproben. Natürlich würde kein dort teilnehmender Schüler abstreiten, dass das laute Klatschen des Publikums auch eine Art der Anerkennung ist. Aber fragen sie mal nach, wie viel allein bei den Proben erlebt, gelernt und durchlitten wurde. Mehr lernen kann man nicht. Und das ganz ohne Noten.

Natürlich ist es immer einfacher, ein Problem zu diagnostizieren als es zu beheben. Und es versteht sich, dass ich keine Lösung parat habe, bei der alle laut jubelnd aufschreien und ihre Praxis verändern würden. Aber es ist unumgänglich, dass der wohl am wenigsten beachtete, da in die über jeden Zweifel erhabene Tradition übergegangene Aspekt des Unterrichtens, die Notengebung, zumindest als das reflektiert ist, was sie ist: der größte Fehler des Systems.

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